Pharmaconcern

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Wenn man sich heute zum Arzt oder ins Krankenhaus begibt, um sich behandeln zu lassen, wäre es durchaus angebracht, ab und an kurz inne zu halten und all jenen zu gedenken, die noch nicht soviel Glück hatten.

Die Medizin, wie so vieles, ist nicht aus heiterem Himmel entstanden, sondern hat sich langsam entwickelt. Was jedoch im Maschinenbau viele Arbeitsstunden und verschwendetes Material ist, kann man sich in der Medizin als lange Reihe von Menschen vorstellen, die erheblich gelitten haben, um das Fach Medizin dahin zu bringen, wo es heute steht.

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war es üblich, Operationen ohne Narkose durchzuführen, die, so sie gelungen war, nur mit Glück langfristig überlebt wurde, Mirkoorganismen und Antisepsis waren nicht entdeckt.

Chirurgen standen damals mit einer Schürze, die vom Blut vorhergegangener Operationen steif war, am Operationstisch, je dreckiger die Schürze, desto mehr Erfahrung hatte der Chirurg. Assistenten dienten dazu, den Patienten festzuhalten. Das Skalpell wurde zwischen den Operationen an der Schürze abgewischt.
Doch auch nach Entdeckung von Narkose und Antisepsis mussten Operationsmethoden entwickeln werden und jeder Fehler, vor dem heute in der Ausbildung von Medizinern gewarnt wird, wurde gemacht, vermutlich nicht nur einmal.

Da ist es beruhigend zu wissen, sowohl für Mediziner als auch für Patienten, dass auf einen umfangreichen Erfahrungsschatz zurückgegriffen werden kann. Neue Erkenntnisse werden heute auch auf anderen Wegen gewonnen als noch vor 100 Jahren.

Ärzte sind weniger heroisch, wenn es um Selbstversuche geht, als zum Beispiel der Erfinder der Äthernarkose, der sich in zahlreichen Versuchen wahrscheinlich in die Abhängigkeit brachte und an ihnen starb.
Nach Versuchen in der Petrischale bringen Mäuse oder andere Säugetiere Opfer für uns Menschen, bevor Freiwillige neue Medikamente testen. Erst im letzten Schritt wird die Therapie an Kranken getestet.

Dabei gibt es immer Unfälle und zunehmend wird die Forschung am Menschen in Entwicklungsländer verlagert, das muss verhindert werden. Doch der Blut- und Leidenszoll ist heute geringer als damals. Die Erkenntnisse sind dafür verlässlich. So dachte ich zumindest lange.

Mittlerweile habe ich Zweifel daran, dass Informationen, die es in meine Lehrbücher geschafft haben, immer dazu geeignet sind, den Menschen zu helfen, die eines Tages vor mir stehen werden.

Erst kürzlich veröffentlichte der Boston Chronicle einen Bericht(1) über einen Ghostwriter.


„On any day of the academic year, I am working on upward of 20 assignments.“


„At busy times, during midterms and finals, my company's staff of roughly 50 writers is not large enough to satisfy the demands of students who will pay for our work and claim it as their own.“


„I’ve read enough academic material to know that I'm not the only bullshit artist out there.“

In den USA wurde ein Buch über die Diagnose und Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen mit Schwerpunkt in der medikamentösen Behandlung im Grunde von einem Pharmaunternehmen diktiert. Zwei bekannte Professoren setzten ihren Namen darunter. Nach Protesten gab der Verlagschef zu Protokoll, so eine „Unterstützung“ sei durchaus normal. Na dann.

Wie tief das Problem reicht, kann man auch am Skandal um Elsevier sehen. Der Verlag brachte über Jahre Fachzeitschriften heraus, deren Inhalt von Merck und Wyeth nicht unerheblich mitbestimmt wurde.


„Ans Licht kam die Praxis durch eine groß angelegte öffentlich finanzierte Studie und auf sie folgende Schadensersatzklagen von über 14.000 amerikanischen Frauen, die Brustkrebs bekamen, nachdem ihnen ihre Ärzte die von Wyeth vertriebenen Hormonpräparate Premarin and Prempro gegen Hitzewallungen und andere Wechselbeschwerden verschrieben hatten.“

„Ans Licht kam dies im Rahmen eines Gerichtsprozesses, bei dem Herzinfarktpatienten, denen das Medikament Vioxx verschrieben worden war, gegen den Pharmakonzern Merck klagen. In den USA sollen in ähnlich gelagerten Fällen knapp 50.000 Vioxx-Patienten mit insgesamt 4,85 Milliarden Dollar entschädigt werden - allerdings ohne Schuldeingeständnis von Merck.“


Eine Studie der Arizona State University konnte zeigen, dass von 50 untersuchten Studien in 10 Ghostwriting explizit untersagt ist. Wie man das überprüfen will, fragt sich wohl nicht nur der Ghostwriter aus der Boston Chronicle.

Es sieht so aus, als müssten Mediziner heute ihren eigenen Weg finden, an verlässliche Ergebnisse zu kommen, ohne die Reihe von Patienten, die für die ihnen Nachfolgenden leiden, unnötig zu verlängern.

Update 5.12.2010, 13:46 Uhr:

Die NYT hat einen ausführlichen Artikel zu dem oben erwähnten Buch.

Von der European Medicines Agency gibt es auch eine Initiative, die für mehr Tranzparenz bei Medikamenten sorgen soll.

[Dieser Text ist ein persönliches Werturteil!]

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

merdeister

Ein guter Charakter erzieht sich selbst. - Indigokind - Blogtherapeut

merdeister

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