Thanatologie der Psyche

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1858 brachte Rudolf Virchow die Erkenntnis in die Welt, jede Erkrankung beruhe auf einer Pathologie in der Zelle. Die Zelle ist krank und macht den Körper krank. Einige Jahre später postulierte Emil Kreapelin, psychiatrische Erkrankungen seien Gehirnerkrankungen. Während Virchow den Grundstein für unsere heutige Medizin legte, indem er klar machte, das jedes Leiden wissenschaftlich erklärbar und (theoretisch) auch behandelbar ist, schafft Kraepelin ein Verständnis dafür, das "Verrückte" auch ein organisches Problem haben und nicht von Geistern besessen sind oder ähnliches. Das hieß in seinem Fall allerdings nicht, das er seine Patienten menschlich behandelte.

Heute sind beide Konzepte nicht mehr aus der Medizin weg zu denken. Ein Herzinfarkt entsteht, wenn die Zellen mehr Sauerstoff verbrauchen als sie bekommen. Die unterschiedlichen Gründe, die das haben kann sind recht gut bekannt und relativ gut zu behandeln. Je besser der oder die Betroffene mitarbeitet, desto besser ist das Ergebnis.

Kein Organ ist so schlecht bekannt wie das Gehirn. Seine Funktionsweise ist höchstens in groben Zügen verstanden. Das Gehirn ist jedoch unzweifelhaft der Sitz unseres selbst, unserer Psyche und/oder Seele. Wenn mit diesem Haufen Neuronen etwas nicht stimmt, kann es zu psychischen Symptomen kommen oder zu einer psychiatrischen Erkrankung führen.

Psychiatrie stetzt sich aus "Psyche" und "iatros" zusammen, wobei iatros "Arzt" heißt. Ein Psychiater ist also ein Seelenarzt. Im Gegensatz zum Psychologen, das ist derjenige, der die Psyche wissenschaftlich erforscht (Logos: Lehre). In kaum einem Gebiet der Medizin gibt es so eine Trennung und es gibt fast nur "Logien", auf Anhieb fällt mir nur noch eine "Atrie" ein, die Pädiatrie.

Aber die Mediziner bilden ihren eigenen Nachwuchs aus. Dieser hört nur von "biochemischen Ungleichgewichten", "Transmittersystemen", "Kerngebieten" und "Vulnerabilitäts-Stress-Modellen". Die Psyche kommt nicht mehr vor (ganz zu schweigen vom Menschen). Das hat natürlich Auswirkungen auf die Therapie: Laufen die Transmitter amok, müssen wir sie eben stoppen; Pille rein, Wirkspiegel erreichen, fertig. Hauptsache es knallt.

Ich fühle mich nicht wie ein von einem Zellhaufen mithilfe von Transmittern gesteuerter Zellhaufen, sonder wie ein Mensch. Wer die Psyche nicht sieht, der kann sie auch nicht behandeln. Wer auf Medikament vertraut, wird keinen Ablass darin sehen ein Psychotherapie zu machen, die diesen Namen verdient. Wer soviele Patienten behandeln muss, das die Zeit nicht reicht, hat natürlich ohnehin keine Chance.

Wir erleben den Tod der Psyche.

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Geschrieben von

merdeister

Ein guter Charakter erzieht sich selbst. - Indigokind - Blogtherapeut

merdeister

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