Vor zehn Jahren erschütterte eine schwere Finanzkrise die als "Tigerstaaten" gefeierten Länder Südostasiens. Der ökonomische Kollaps brachte auch politisch eine Zäsur, argumentiert Meredith Jung-En Woo. Seither sei China der mächtigste Akteur sowie das wirtschaftliche Zentrum der Region und habe die USA verdrängt. Professorin Woo wuchs in Seoul auf und studierte in Japan und Nordamerika. Seit 2001 lehrt sie Politikwissenschaft an der University of Michigan in Ann Arbor (USA). Zuletzt veröffentlichte sie Neoliberalism and Institutional Reform in East Asia (2007). Den in gekürzter Form dokumentierten Artikel von Jung-En Woo entnahmen wir dem britischen Magazin New Left Review.
Wann begann die Asiatische Finanzkrise von 1997? Ihre Ursprünge dürften die meisten Südkoreaner in den schlechten Wirtschaftsnachrichten verorten, die einen Schatten über den Herbst 1997 warfen. Die Thais werden eher an den Frühsommer desselben Jahres denken, als Währungshändler den thailändischen Baht nicht schnell genug verkaufen konnten und damit der Wechselkurs einem unerträglichen Druck ausgesetzt war. Die Indonesier traf die Krise Anfang 1998 mit voller Wucht - ihr Land fiel hinter die wirtschaftlichen Errungenschaften dreier Jahrzehnte zurück.
Wie dem auch sei, 1997/98 erlebte die Region eine klassische Liquiditätskrise, die freilich durch eigenwillige institutionelle Praktiken in den betroffenen Ländern noch verschlimmert wurde. Zudem handelte die globale Herde der Fondsmanager, als wolle sie das Wort von Friedrich Engels bestätigen, wonach es nichts Erbärmlicheres gibt als einen verstörten Kapitalisten. Das US-Finanzministerium sah die Chance, die ostasiatische Wirtschaft - besonders die südkoreanische - ein für alle mal zu öffnen, ohne Rücksicht auf die Ursachen der Krise. Und der Internationale Währungsfonds (IWF) erlegte den erschütterten Ökonomien eine Politik hoher Zinsraten auf.
Die kurzfristigen Folgen waren sehr schwer: Überall in Südostasien zerbrachen große wie kleine Firmen, da sie die nunmehr hohen Zinssätze nicht bedienen konnten und keine Nachsicht bei hyperstrengen Konkursgerichten fanden. In Südkorea wurde das Arbeitsrecht ausgehöhlt, was zu Massenentlassungen führte. In Indonesien wanderten diejenigen, die in den Städten arbeitslos wurden, zurück in ländliche Regionen, aus denen sie einst gekommen waren.
Oft deutet man die Asienkrise als Vorbotin vergleichbarer Ereignisse in Brasilien und Russland 1998 sowie Argentinien zwischen 1999 und 2003. Aber man kann diesen Kollaps auch in einem spezifisch asiatischen Kontext sehen - als regionalen Wendepunkt von historischem Rang. Mit ihr ging die alte politische wie wirtschaftliche Ordnung in Flammen auf, und eine neue bildete sich heraus.
Das El Niño-Phänomen
Will man verstehen, wie das 21. Jahrhundert in Südost- und Ostasien Einzug hielt, sollte man kurz rekapitulieren, worin die alte Ordnung bestand, die 1997/98 zusammenbrach: Auf politischer Ebene führte das amerikanische Verständnis von regionaler "Stabilität" während des Kalten Krieges zur Rückendeckung für autoritäre Regierungen. Drei Jahrzehnte währte die "Neue Ordnung" des Generals Suharto - "Kapitalismus in einer Familie" - in Indonesien, zwei Jahrzehnte die Marcos-Diktatur auf den Philippinen und vier Jahrzehnte wurden die antikommunistischen Hardliner in Südkorea unterstützt. Das Ende des Vietnam- und später des Kalten Krieges machte es überflüssig, im Namen des Antikommunismus weiter Männer fürs Grobe zu hofieren; so schwand auch der amerikanische Einfluss.
Wirtschaftlich hatte vorzugsweise das Anlagekapital eine Rolle gespielt, das in den achtziger Jahren aus Japan kam. Schon Ende der siebziger Jahre war das Land der aufgehenden Sonne zum bedeutendsten ausländischen Einzelinvestor in der Region avanciert und betrachtete Südostasien zunehmend als seinen Hinterhof, ähnlich wie es die USA mit Lateinamerika hielten.
Das Produktionswunder der südostasiatischen Tigerstaaten hatte wegen der Absonderung Chinas nach 1949 einen außergewöhnlichen Kontext. Mit anderen Worten: Das Wachstum basierte auf geborgter Zeit, die nur zur Verfügung stand, bis die Volksrepublik zurück auf den Weltmarkt brauste.
Diese Nachkriegsordnung ging 1997/98 zu Bruch, woran eine ökologische Katastrophe ihren Anteil hatte, die mancherorts apokalyptische Züge annahm: Das El Niño-Phänomen erwies sich als so stark wie kaum irgendwann seit Beginn der Wetter-Aufzeichnungen vor 300 Jahren. Es reichte von Syrien bis zur Mongolei, traf China, Nordkorea und Südostasien, und verwüstete einige Entwicklungsländer. Auf El Niño ging der schwere Winter zurück, der 1997 20 Prozent des Viehbestands in Tibet bedrohte und eine massive Nahrungsmittelknappheit in Tadschikistan auslöste. In Indonesien führte das Phänomen zu Dürre und verheerenden Buschfeuern, die durch die knochentrockenen Wälder rasten, fast zehn Millionen Hektar erfassten und ganz Südostasien in Rauch hüllten. Die Brände wüteten von Juni bis November 1997 und verursachten einen Schaden von über zwei Milliarden Dollar. Als sich die Rauchschwaden lichteten, war diese Weltregion ein anderer Ort.
Das einstige "Wirtschaftswunder" in Südostasien konnte nur von Dauer sein, wenn es sich auf ein stabiles Wachstum stützte, das seit Mitte der achtziger Jahre bei sieben bis neun Prozent lag. Nach 1997/98 freilich sollte man diesen Schwung schmerzhaft vermissen und sich mit Wachstumsraten von vier bis sechs Prozent begnügen müssen. Derzeit vollbringen nur noch Indien, China und Vietnam wirtschaftliche "Wunder" mit einem Jahresplus von acht bis zehn Prozent. Vietnam übertrifft heute Thailand im Zementverbrauch, der stets gutenr Indikator für das Investitionsgeschehen war.
Auch sind die autoritären Regierungen, die einst die ökonomischen Tiger Südostasiens ritten, eine nach der anderen gefallen. In Indonesien wurde die Neue Ordnung durch eine Reihe schwacher demokratischer Führer ersetzt und der "Kapitalismus in einer Familie" durch den Kapitalismus in mehreren. Thailand erlebte eine Reihe von Führungswechseln, bis Premier Thaksin Shinawatra 2006 in einem unblutigen Putsch gestürzt wurde - für Marcos in Manila waren die Tage schon vorher gezählt. Da aber ökonomischer Aufschwung nicht notwendig an eine autoritäre Politik gebunden ist, resultierte der Niedergang einer hyper-dynamischen Wirtschaftsexpansion nicht aus dem Abgang der Autokraten. Vielmehr hatte das Ende des Kalten Krieges zu einem fundamentalen Wandel der alten Hegemonialpolitik in Südostasien geführt, die politisch wie militärisch lange von den USA und finanziell von Japan gestützt wurde. An deren Stelle trat China, das Stabilität an seiner Peripherie bewahren musste - und sei es nur, um weiter ungestört wachsen zu können.
Die Volksrepublik braucht heute allein schon deswegen einen substanziellen Einfluss in der Region, weil sie Seestraßen sichern muss - sie ist weltweit zweitgrößter Ölimporteur und bezieht die Hälfte davon über die Straße von Malacca. China verbraucht die Hälfte der Weltzementproduktion, ein Drittel des Stahls, ein Viertel des Kupfers, ein Fünftel des Aluminiums. Dieser Ressourcentransfer wird gleichfalls auf dem Seeweg abgewickelt - über die Straßen von Malacca, Sunda, Lombok und Makassar.
Südkoreas Abwehrfeuer
Derart geopolitisch gefordert, nimmt China den Faden dort wieder auf, wo ihn die USA fallen ließen. Das heißt, in dem Maße, wie regionale Wirtschaftsforen unter Einschluss der Amerikaner an Fahrt verlieren - etwa die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) -, hat die ASEAN-Plus-3, der Washington nicht angehört, an Schwung gewonnen. Bald könnte eine Freihandelszone zwischen China und den ASEAN-Staaten möglich sein, die ACFTA.
Die japanischen Direktinvestitionen in den ASEAN-Staaten betrugen 1995 - vor der Flaute - 5,7 Milliarden Dollar; sie stürzten bis 2000 auf weniger als ein Fünftel und lagen 2003 erst wieder bei 2,5 Milliarden. Der Kapitaltransfer aus den USA bleibt zehn Jahre nach der Asienkrise ebenfalls auf einem bescheidenen Level von vier Milliarden Dollar, während Südkorea und Taiwan ihren Einsatz erhöhten - ebenso China.
Zwischen 1993 und 2001 nahm Chinas Handel mit der Region pro Jahr um 75 Prozent zu; seine Exporte in die ASEAN-Staaten wuchsen zwischen 2000 und 2005 um 220 Prozent. Die Importe aus Südostasien stiegen im gleichen Zeitraum noch stärker - um 239 Prozent (gegenüber 93 Prozent bei den Einfuhren aus dem Rest der Welt). Mit der erwähnten ACTFA könnte bis 2010 die größte Freihandelszone der Welt entstehen. Sie würde dem Handel ihrer Mitglieder einen Schub verpassen und ohne die USA und Japan auskommen.
Niemanden beunruhigt Chinas Aufstieg mehr als Südkorea. In den zehn Jahren seit der Asienkrise hat Seoul zwei verschiedene Antworten auf die neue, um China zentrierte regionale Ordnung gefunden. Zunächst vertiefte es seine Wirtschaftsbeziehungen zur Volksrepublik, die heute Südkoreas größten Exportmarkt bildet. Güter im Wert von fast 70 Milliarden Dollar gingen 2006 ins Reich der Mitte - mehr als in die USA oder nach Japan. Zudem importierte Südkorea für 50 Milliarden Dollar aus der Volksrepublik soviel wie sonst aus keinem anderen Land.
Parallel dazu - und das war die zweite Antwort - tat Seoul nicht wenig, um seine Bindung an die USA zu pflegen. Im Juni wurde ein Abkommen zwischen Seoul und Washington unterzeichnet, das Südkorea quasi zu einer Modellnation des Freihandels erklärt. Nur dann werde man mit den Chinesen mithalten können, glaubt die Regierung in Seoul. Nur dann, wenn sich Wirtschaft und Gesellschaft massiv wandelten. Also soll das Humankapital mit amerikanischer Wissenschaft und Technologie verbunden und die Industrie in ihren Schlüsselbranchen ebenso mit US-Partnern verflochten sein.
Die südostasiatischen Staaten hingegen begriffen nach der Asienkrise den Aufstieg Chinas als Offerte für den eigenen Handel. Man suchte praktische Lösungen im Umgang mit der praktischsten unter den heutigen Weltmächten. Der Rest der Welt sollte dieses Verhaltensmuster aufnehmen.
Aus dem Englischen von Steffen Vogel
New Left Review wurde 1960 gegründet. Die zweimonatlich erscheinende Zeitschrift zählt zu den bedeutendsten kritischen Publikationen der angelsächsischen Welt. Zu ihren Redakteuren gehören Tariq Ali, Mike Davis und Perry Anderson.
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