Als sich am 21. Januar 2017 500.000 Menschen am Kapitol in Washington, D. C., versammelten, schrieben sie Geschichte: Die Demonstration war in den USA nicht nur die bisher größte ihrer Art, sondern bewies zugleich, dass sich die Opposition inner- wie außerhalb des Parlaments maßgeblich über das Eintreten für Frauenrechte konstituierte. In den wenigen Wochen zwischen der Wahl des neuen US-Präsidenten Donald Trump und seiner Vereidigung hatte die kleine Organisationsgruppe des „Women’s March on Washington“ mit ihren Forderungen Menschen auf der ganzen Welt erreicht. In mehr als 80 Ländern fanden an diesem Tag Demonstrationen für Frauenrechte statt.
Nach der ersten Euphorie folgte schnell Ernüchterung. Antisemitische Äußerungen innerhalb der Bewegung wurden kritisiert, genau wie der Rauswurf der jüdischen Aktivistin Vanessa Wruble und Verbindungen zum Führer der politisch-religiösen Gruppe „Nation of Islam“, Louis Farrakhan. Diese Kritik am „Women’s March“, der diesen Januar auch in Frankfurt mit immerhin über 1.000 Teilnehmer*innen stattfand, hält bis heute an. Ein genauerer Blick offenbart die massiven Probleme mit Antisemitismus, denen nicht nur Teile des „Women’s March“, sondern auch viele andere feministische Bewegungen und Idole aufgesessen sind. Beim Berliner Frauenstreik-Bündnis werden derzeit ganz ähnliche Diskussionen geführt.
Nähe zum Hassprediger
Im Rückblick auf die Zeit seit dem ersten „Women’s March“ ist es gar nicht so überraschend, dass im damals veröffentlichten Selbstverständnis bei der Aufzählung marginalisierter Frauen gerade Jüdinnen nicht vorkamen. Im weiteren Verlauf sollte sich herausstellen, dass sie auch nie mitgemeint waren. Zwei Monate nach dem ersten Marsch riefen die Organisatorinnen zur Teilnahme an einem Frauenstreik auf. In dessen Selbstverständnis hieß es nun tatsächlich, dass „Gerechtigkeit für Palästina (…) das schlagende Herz dieser neuen feministischen Bewegung“ sei. Es blieb vorerst schleierhaft, warum dies nun ausgerechnet die Schlüsselforderung einer feministischen Bewegung sein sollte, deren Ausgangspunkt schließlich die misogynen und sexistischen Äußerungen Donald Trumps waren. Den ersten Eindruck, dass Jüdinnen nie Teil der Bewegung sein und dass Antizionismus sogar zum Konsens gehören sollte, verstärkte noch eine Aussage Linda Sarsours in der Zeitung The Nation. Sarsour, Mitglied im Vorstand des „Women’s March“, schrieb hier, dass Feminismus und Zionismus keinesfalls miteinander vereinbar seien. Auf einer Konferenz im Jahr 2018 ließ sie zuvor verlautbaren, dass Israelis als Tyrannen nicht vermenschlicht werden dürften.
Dass Jüdinnen in intersektional-feministischen Perspektiven oftmals keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist ein alter antisemitischer Hut, der sich in progressiver Politik verkleidet: Das Jüdische, und damit sind explizit Jüd*innen, aber auch Israel gemeint, wird als unterdrückend wahrgenommen. In der antisemitischen Bildsprache ist der Jude kein Untermensch, sondern vielmehr mächtiger Strippenzieher. Er hält die Fäden in der Hand und bestimmt das Weltgeschehen.
Vanessa Wruble berichtete erst kürzlich von ihren Erfahrungen beim ersten organisatorischen Treffen des „Women’s March“ 2017. Laut Wruble hätten Tamika Mallory und Carmen Perez, zwei weitere führende Figuren des „Women’s March“, sie mit der Anschuldigung konfrontiert, die Juden seien schuld am Rassismus in den USA und stützten zudem die weiße Vorherrschaft. Von Wruble wurde erwartet, sich diesbezüglich zu positionieren. Das zeigt nicht nur, dass sie sich als Jüdin für vermeintliche Taten anderer Jüd*innen verantworten soll, sondern vor allem, welche verschwörerische Rolle Jüd*innen im antisemitischen Denken zugewiesen wird: Sie seien für das Übel dieser Welt verantwortlich und daher immer auf der Seite der Unterdrücker, niemals auf jener der Unterdrückten – in diesem Fall der Frauen.
Die Ambivalenz, die für den Antisemitismus charakteristisch ist, wird hier besonders deutlich. Während die Linksliberalen Mallory und Perez den Jüd*innen unterstellen, Rassismus zu vermehren, spukt im rechten Milieu die Verschwörungstheorie, der Milliardär George Soros würde Flüchtlinge nach Europa holen und damit den vermeintlichen „Volkskörper“ zersetzen wollen. Die Gemeinsamkeit findet sich in der Rolle, die der Jude einnimmt: Er steckt dahinter. Dass Jüd*innen vermeintlich die Verursacher*innen und Profiteur*innen der Sklaverei und Unterdrückung Schwarzer in den USA gewesen seien, wird ebenso von Louis Farrakhan, dem Hassprediger der „Nation of Islam“ verbreitet. Farrakhan wurde zu einer Art Übervater der Organisatorinnen des „Women’s March“ und wird von jenen Frauen immer wieder verteidigt. Die antisemitischen Verschwörungstheorien Farrakhans reichen von Aussagen, Juden hätten die Terroranschläge am 11. September 2001 verübt, bis hin zu konkreten Drohungen, die er gegen „mächtige Juden“ ausspricht. Ausgerechnet mit diesem Mann haben sich sowohl Mallory als auch Perez ablichten lassen. Auch Linda Sarsours Bewunderung für Farrakhan scheint durch dessen Aussage, Adolf Hitler sei ein „großer Mann“ gewesen, nicht gemindert.
Marching with tears in my eyes
Tatsächlich tritt in diesem irritierenden Verhältnis zur islamistischen Vereinigung der „Nation of Islam“ zutage, wie die notwendige Kritik des Rassismus ad absurdum geführt wird. Schwarzen oder muslimischen Individuen und Gruppen wird eine umfassende Immunität gegenüber berechtigter Kritik zugeschrieben. Selbst Farrakhan, ein notorischer Frauen- und LGBT-Hasser, kann so zum Verbündeten gegen die kritisierte weiße Vorherrschaft werden. Jüd*innen gelten in solchen simplifizierten Gegenüberstellungen als homogen weiß und dadurch als privilegiert. Derartige Vereinfachungen zeitigen zuweilen den Gedankenschluss, die Schoa sei ein Verbrechen, das Weiße an Weißen begangen hätten, was dann bei Queer-Theoretikerinnen wie Jasbir Puar dazu führt, dass sie den Anspruch auf nationale Selbstbestimmung von Jüd*innen ausschließlich als letzte Bastion des Imperialismus sehen.
Gleiches gilt für Israel. Der jüdische Staat wird als Eindringling, als homogen weißer Staat in einer von Natur aus nichtweißen Region gezeichnet. Für Mallory, Perez und Sarsour bleibt Israel immer ein Fremdkörper, zu dem schon in den frühesten antisemitischen Ressentiments der Jude gemacht wurde. Man schalt ihn wurzel- und geschichtslos und missbilligte sein vermeintliches Eindringen in die „Wirtsvölker“. Während Linda Sarsour zur Restaurierung von jüdischen Friedhöfen Spenden sammelt und den am „Women’s March“ 2019 teilnehmenden Jüdinnen zurief, dass sie willkommen seien, offenbart sich an der Rezeption Israels das deutliche Antlitz ihres Antisemitismus. Was dem Antisemiten der Jude ist, ist dem Antizionisten Israel. Die Ressentiments bleiben dieselben. Antisemitismus ist, wie der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn eindrücklich belegt hat, eine Ideologie, die die Moderne als negative Leitlinie durchzieht. So verwundert es nicht, ihm in seiner Absolutheit auch in den Reihen des „Women’s March“ zu begegnen.
Als der Marsch im Januar zum dritten Mal stattfand, war die Bewegung gespalten. Zwei Demonstrationen versammelten sich in New York. Die weitaus größere der beiden wurde ausgerechnet von Vanessa Wruble initiiert. Unter dem Motto „March On“ sollten sich die Teilnehmer*innen auch explizit gegen Antisemitismus positionieren. Das zeigt, dass sich mehr Menschen der Probleme bewusst geworden sind und die Reihen nicht länger mit Sarsour, Perez und Mallory schließen wollen. Es zeigt ebenso, dass Feminismus ein ideologisches Bindeglied wie die Floskel „Gerechtigkeit für Palästina“ nicht benötigt.
Wenn die notwendige Kritik an patriarchalen Verhältnissen dafür genutzt wird, Antisemitismus zu billigen, zu verbreiten und zu verteidigen, ist das keine verschmerzbare Nebensächlichkeit. Solidarität mit Frauen, die überall auf der Welt unterdrückt werden, braucht keinen herbeifantasierten jüdischen oder israelischen Unterdrücker. In Anbetracht der dramatischen Situation der Frauen in Iran, die für das Ablegen ihrer Verschleierung mit Haft und Folter bestraft werden, der Frauen, die für Hungerlöhne in den Textilfabriken in Bangladesch arbeiten, oder der Frauen, die in Somalia genitalverstümmelt werden, sollte vielmehr die Forderung nach Gerechtigkeit für alle Frauen der Herzschlag einer feministischen Bewegung sein.
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