„Der Rettungswagen braucht 35 Minuten“

Interview Matthias Günther kämpft als Bürgermeister von Genthin für die 24-Stunden-Notversorgung
Ausgabe 30/2019
In vielen ländlichen Gegenden dauert es viel zu lang, bis ein Rettungswagen zur Stelle ist
In vielen ländlichen Gegenden dauert es viel zu lang, bis ein Rettungswagen zur Stelle ist

Foto: Imago Images/Panthermedia

Im September 2017 wurde das Johanniter-Krankenhaus Genthin in Sachsen-Anhalt nach 150 Jahren geschlossen. Trotz großer Proteste aus der Bevölkerung und seitens der Stadt. Matthias Günther ist dort Bürgermeister und sucht nach Alternativen, damit die Region um Genthin ausreichend medizinisch versorgt ist.

der Freitag: Das Krankenhaus in Genthin ist nun seit zwei Jahren geschlossen. Mit welchen Folgen?

Matthias Günther: Das Kernproblem liegt darin, dass es nun keine 24-Stunden-Notversorgung mehr gibt. Das nächste Krankenhaus ist in Stendal, 40 Kilometer entfernt. Konkret bedeutet das: Wenn jemand einen Arbeitsunfall hat, dann hat er keine Anlaufstelle vor Ort. Er muss zum Nähen mit dem Notarztwagen nach Stendal. Anschließend muss der Patient seine Heimreise auf eigene Faust antreten. Wenn er keine Angehörigen hat, muss er zuerst mit dem Zug nach Magdeburg und von dort einen weiteren Zug nach Genthin nehmen. Da ist man einige Stunden unterwegs. Oder man nimmt sich auf eigene Kosten ein Taxi. Für Ältere und Menschen ohne Auto ist ein weit entferntes Krankenhaus ein Problem.

Wie nehmen Sie die Stimmung unter den Genthiner Bürgern und Bürgerinnen wahr?

Sie fühlen sich allein gelassen. Es ist für sie ein bedrohliches Szenario, dass der Rettungswagen 35 Minuten bis nach Stendal braucht. Für viele entscheidet sich an diesem Thema, ob sie weiter hier leben wollen. Wir haben viele ältere Menschen, die sich fragen: Wie können wir in einer medizinisch ohnehin unterversorgten Region noch gut betreut werden? Sie wägen ab, ob sie bleiben. Die Menschen hier wünschen sich ein Krankenhaus, das maximal 15 bis 20 Minuten entfernt ist. Die Jüngeren stimmen besonders oft mit den Füßen ab.

Ursprünglich war der Schließungszeitpunkt für das Genthiner Krankenhaus auf 2019 terminiert. Weshalb wurde er zwei Jahre vorgezogen?

Die für Gesundheit zuständige Landesministerin Petra Grimm-Benne (SPD) erklärte 2018, dass in Sachsen-Anhalt kein Krankenhaus mehr geschlossen werden soll. Manche Bürger sehen hier einen Zusammenhang.

Zur Person

Matthias Günther, Jahrgang 1969, wurde im Mai 2018 als Parteiloser zum Bürgermeister in Genthin gewählt. Die Schließung des Krankenhauses begleitet ihn seit seinem Amtsantritt. Er würde gerne ein Pilotprojekt zur medizinischen Versorgung im ländlichen Raum starten

Wie hat die Stadt auf die Schließung reagiert? Gibt es Alternativvorschläge?

Wir gründeten die Arbeitsgruppe „Medizinische Versorgung in und um Genthin“. Es wurden über 3.000 Unterschriften gesammelt und es gab viele öffentliche Veranstaltungen. Grundsätzlich sind wir in Genthin bereit, ein Pilotprojekt für den ländlichen Raum zu starten.

Wie könnte das aussehen?

Fahrzeiten von 35 bis 40 Minuten sind inakzeptabel. Sinnvoll wäre, Genthin mit einer Spezialisierung zu versehen, zum Beispiel als Diabetes-Krankenhaus. Diskutiert wird unter anderem auch das Portal-Klinik-Modell: ein kleiner Ableger einer größeren Klinik mit 24-Stunden-Notversorgung.

Die Bertelsmann Stiftung schlägt vor, Krankenhäuser zu schließen und zu zentralisieren ...

Es ergibt Sinn, spezialisierte Kliniken zu zentralisieren. Nicht jedes Krankenhaus muss Herzoperationen durchführen. Aber wir brauchen hier eine Anlaufstelle, in der rund um die Uhr Notversorgung geleistet wird.

Manche Gesundheitsexperten sagen heute, es war falsch, die Polikliniken in der DDR aufzulösen. Wie sehen Sie das?

Die Polikliniken der DDR zu schließen, war ein großer Fehler. Man sollte mutig sein und ein neues ganzheitliches Modell auf die Beine stellen, aber das werden die entsprechenden Lobbyisten verhindern. Wir brauchen auch keine 200 Krankenkassen! Die Mitarbeiter wären am Patienten sinnvoller zugeordnet.

Wie geht es in Genthin konkret weiter?

Dem Gesundheitsministerium liegt unser Bedarf vor. Jetzt liegt es an ihm, die Initiative zu ergreifen. Die Johanniter haben sich bereits dazu bereit erklärt, Träger für ein neues Projekt zu sein. Aber dafür brauchen wir das Land an unserer Seite. Es muss die nötige Infrastruktur stellen und für die Kosten der Immobilie aufkommen. Die Gespräche laufen noch. Genthin ist offen für neue Ideen. Wir erwarten, dass die große Politik den ländlichen Raum nicht vergisst. Genthin bietet sich für ein Pilotprojekt an. Wir haben die besten Voraussetzungen, wir sind medizinisch unterversorgt und verfügen über ein leer stehendes großes Krankenhausgelände in bester Lage.

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