Licht aus, Regler hoch, voller Chor und Orchester, b-Moll in getragenem Dreivierteltakt: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras ...“ Auch wenn den Besucher des diesjährigen Theatertreffens wenig an das vergangene erinnern wird, der wuchtige zweite Satz aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms bleibt ihm unweigerlich im Ohr. Im Vorjahr war er in der Romanadaption von Sepp Bierbichlers Mittelreich in der Regie von Anna-Sophie Mahler zu hören, die von den Münchner Kammerspielen eingeladen war. Damals wurde eine Kammerversion des spätromantischen Konzertstücks zum musikalischen Gerüst dieses klug dramatisierten Nachkriegsepos.
Heuer tönt der Brahms aus Bern, gleich zum Auftakt von Ersan Mondtags Die Vernichtung. Er transportiert analog zum St
r Brahms aus Bern, gleich zum Auftakt von Ersan Mondtags Die Vernichtung. Er transportiert analog zum Stücktitel Endzeit-Pathos und Gedankenschwere. Doch anders als bei Anna-Sophie Mahler, wo die Musik den Abend über weite Strecken strukturierte, wird dem Zuschauer bei Mondtag schnell klar, dass ihm Brahms im Modus der Ironie serviert wird: Die Endzeitlandschaft entpuppt sich als veritabler Garten Eden, in dem die Protagonisten aus Langeweile eine finale Katastrophe erwarten, die freilich – Beckett lässt grüßen – nicht eintritt. Das entfaltet streckenweise Magie. Die zwei Pärchen in bemalten Trikots, die ihre Nacktheit veristisch verzerren, plappern und sinnieren über Hundewelpen, private und soziale Fragen, um ab und an einem neuen Musikstück zu lauschen oder in einer neuen Position zu kopulieren. Doch das Publikum hat sich am Dschungeleinheitsbühnenbild schnell sattgesehen. Und es mag den vier schlichten Zeitgenossen und ihren schütteren Dialogen nicht mehr so recht folgen. Der Brahms zum Anfang entpuppt sich als Knaller einer Dramaturgie, die bei den Stichworten „Requiem“ und „Deutsch“ meint, ohne weiteres Zutun Tiefgang erzeugt zu haben. Dabei wird die Arbeit an der Geschichte, die man erzählen will, die Arbeit am Text, seine Interpretation und die nötige Übersetzungsleistung an das Pathos der Musik delegiert. Was hier nicht geleistet wurde, wird durch eine möglichst ergreifende, überwältigende oder coole musikalische Untermalung kompensiert.Dieses Dilemma ist symptomatisch für den heutigen Theaterbetrieb.„Drei Schwestern“ retweetetDie Konflikte und Frontlinien sind mannigfach, der ästhetische und politische Druck immens. Vor allem die Klage über zu viel Nähe des Theaters zur Performance und bildenden Kunst ebbt nicht ab. Was in den 1960er Jahren vom Doyen der U.S.-amerikanischen Kunst, Michael Fried, beklagt wurde – eine Theatralisierung der Kunst –, gilt heute mit umgekehrten Vorzeichen für das Theater, dem nicht erst mit Frank Castorfs Einsatz neuer Medien eine Verkunstung nachgesagt wird. Wie absurd sich der Vorwurf bei genauerem Besehen ausnimmt, zeigt sich daran, dass Castorf heute als Wahrer des Ensembletheaters gegen seinen designierten Nachfolger, den eher theaterfernen Kurator Chris Dercon, ausgespielt werden kann. Das Theater als Eventbude – dieses Menetekel steht allerdings auch schon an den Häusern, seit in den 1990er Jahren die ersten Kulturmanager an Westuniversitäten ihren Bachelor in der Tasche hatten.Freilich verbergen sich hinter solchen Frontlinien vor allem auch generationelle Konflikte. Bei der diesjährigen Auswahl der Stücke fällt eine Ausgewogenheit der Kohortenstärke auf: Die alten Platzhirsche, die über Jahrzehnte den Betrieb besetzten, sind längst nicht mehr vertreten. Herbert Fritsch, Johan Simons und Tim Etchells sitzen nun auf den Seniorenrängen, gefolgt von den 1970er Jahrgängen wie Ulrich Rasche, Kay Voges und Milo Rau sowie den 1980ern, die an die Türen der großen Häuser klopfen: der 35-jährige Thom Luz, Simon Stone, 33, und Ersan Mondtag, der in diesem Jahr 30 wird. Die Regisseurin Claudia Bauer, Jahrgang 1966, sitzt als einzige Frau auch hier zwischen den Stühlen. Dass die Jury kräftig mitinszeniert hat, versteht sich von selbst.Mit dem 54. Theatertreffen hat sich unumkehrbar ein Paradigmenwechsel vom textbasierten Regietheater hin zur postdramatischen Aufführungspraxis vollzogen. Wo es vor ein paar Jahren ausschließlich um die zeitgenössische Deutung des klassischen Repertoires ging, sorgen sich heute nur noch zwei um die Fortschreibung des traditionellen Bestands. Mit Ulrich Rasches Die Räuber und Simone Stones Drei Schwestern kümmert man sich nicht zufällig ausgerechnet mit zwei Dramen um gescheiterte Rebellionen. Obendrein werden diese bei beiden Regisseuren in szenische Durchlauferhitzer gestopft. Rasche schickt seine Darsteller auf gewaltige Laufbänder à la Fritz Lang, Stone ordert sie in ein Wochenendhäuschen in der Prignitz.Der Darling des deutschen Regietheaters Simon Stone – er war als Einziger auch im vergangenen Jahr beim Theatertreffen dabei – katapultiert Tschechows drei Schwestern in die Gegenwart – mitten ins Ziel und voll daneben, denn statt zentrifugaler Kräfte regieren zentripetale; „bloß Tschechow“, was immer das bedeuten mag, das geht heute nicht. Und so wird die Inszenierung des Jungstars vollmundig als Uraufführung angekündigt. Es bleibt weitgehend die Figurenkonstellation, der formale Aufbau, doch sonst wird Tschechow „überschrieben“, zeitgeistig auf Byung-Chul-Han-Niveau reenacted, so dass der ursprüngliche Text nur noch im Groben zu erahnen ist. Dabei reduzieren Stone und sein Übersetzer Tschechows Gesellschaftsdrama in der russischen Provinz auf ein paar Tweets seiner Kohorte in Papas Wochenendhäuschen in der Prignitz.Was macht den Abend dennoch so ansprechend? Es ist schlicht die trügerische Illusion, Tschechow mit einer deutschen Vorabendserie, Sprachmagie mit dem infantilen Screwball versöhnen und dem zeitgenössischen Theater mit Einfühlungsrealismus in der Darstellung beikommen zu können. Als voyeuristisches Surplus winkt dann noch das auf der Drehbühne exponierte Wochenendhäuschen: Das Publikum darf mit großen Ohren (die Schauspieler tragen Microport) und Augen (Scheiben) der deplatzierten Jugend in einem gleichsam wissenschaftlichen Reenactment-Setting (Frau und Mann lassen ab und an Geschlechtsteile sehen) beiwohnen.Damit gelingt der Basler Tschechow-Überschreibung, was man sonst von keiner eingeladenen Inszenierung sagen kann: Sie zerfällt nicht in eine bloße Szenenfolge, kommt ohne musikalischen Kitt und Unterfütterung aus. Schon Ulrich Rasches Muckibuden-Schiller Die Räuber braucht Trommel und Streicher als Taktgeber am Bühnenrand, um geschmiert zu laufen.Das gilt auch und vor allem für die beiden Inszenierungen, die Romanadaptionen vornehmen, Claudia Bauers 89/90 nach einem Wenderoman von Peter Richter und Johan Simons’ Der Schimmelreiter nach Theodor Storm. Erst recht aber für die theatrale Installation Die Borderline Prozession von Kay Voges, Traurige Zauberer. Eine stumme Komödie mit Musik von Thom Luz, Pfusch von Herbert Fritsch und Real Magic von Tim Etchells’ Gruppe Forced Entertainment.Der geistige VaterUnd selbst noch das Theater am anderen Ende der Formalismus-Realismus-Skala, Milo Raus Dokudrama um den belgischen Pädokriminellen Marc Dutroux Five Easy Pieces fußt auf einer Nummernrevue-Dramaturgie. Alle Kindererzählerinnen und -erzähler haben jeweils einen bezaubernden musikalisch-tänzerischen Auftritt, jedoch ohne dass die pädagogische Herrschaftsgeste für das Publikum in verbindliche Zusammenhänge gebracht wird. Von was will Rau erzählen? Dem belgischen Staat? Seiner gewaltgesättigten Kolonialgeschichte? Den Perversionen eines Dutroux? Das bleibt alles im (musikalisch) Vagen.Der Verdacht, Christoph Marthaler könnte hier der geistige Vater einer ganzen Theatergeneration sein, ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht umsonst zitiert der Titel Five Easy Pieces Igor Strawinskys Übungsstücke für Klavier. Marthaler, Jahrgang ’51 und mittlerweile hochdekorierter Schweizer Theaterregisseur, brachte 1993 mit dem Volksbühnenstück Murx den Europäer! einen bitterbös-unterhaltsamen Abgesang auf den deutschen Osten heraus. Gesellschaftspolitischer Biss und dessen formale Durchdringung suchten ihresgleichen. Bis 2007 stand Marthalers Stück auf dem Spielplan. Ein neues Format schien geboren. Mit dem musikalischen Vaudeville wurde es den großen Häusern möglich, auch ohne Fünf-Akte-Handlung oder eine durchgängige Erzählung mit Theater zu unterhalten.Dass dabei in Folge die Musik allzu oft die Durchdringung der Materie ersetzt, ist Marthaler kaum anzulasten. Mehr schon dem Produktionsdruck an den Theatern, der sorgfältige Lektüren kaum mehr zulässt. So bleibt wohl vorerst nur Brahms aus vollen Rohren.Placeholder infobox-2
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