Die Überraschung war groß, als die internationale Jury der 54. Venedig Biennale für zeitgenössische Kunst am vergangenen Freitag den Goldenen Löwen für den besten nationalen Pavillon vergab. Gekürt wurde nicht der Favorit Mike Nelson, der ein Istanbuler Handwerkerhaus hyperrealistisch in den Britischen Pavillon gepflanzt, oder Thomas Hirschhorn, der den Schweizer Pavillon in eine propagandistische Kristallhöhle samt Murmeltier und Gräuelbilderwimpeln verwandelt hatte, sondern der von der Frankfurter Museumsleiterin Susanne Gaensheimer verantwortete Deutsche Pavillon.
Schon deren Entscheidung für Christoph Schlingensief rief im vergangenen Jahr Kritik hervor wie die des Malers Gerhard Richter, der monierte, dass damit wieder einmal die Malere
die Malerei vernachlässigt werde. Nach Schlingensiefs Tod im August letzten Jahres wurde der zentrale Ausstellungsraum des Pavillons mit dem Set bestückt, in dem Schlingensief nach seiner Krebsdiagnose das Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir aufgeführt hatte.PublikumsbeteiligungEine satte Soundkulisse, apokalyptische Texte von und mit Schlingensief, Kirchenbänke, Holztreppe zum Altar aus der Oberhausener Kirche, in der er als Kind ministrierte, Krankenbett und Totenkerzen, tote Hasen und Schwarz-Weiß-Videobilder weit oben, entfalten darin einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Zur Uraufführung mit Schlingensief noch Austreibungsritual, wird die Installation in Venedig ohne Schlingensief zur Totenbeschwörung, zu einem Überwältigungstheater, das in den Seitenflügeln um eine Projektion der bekanntesten Filme Schlingensiefs und eine Dokumentation seines „Operndorf“-Projektes in Burkina Faso ergänzt wurde.Die überraschende Juryentscheidung dürfte demnach weniger ästhetischen Erwägungen geschuldet sein als dem Umstand, dass hier einer Ausnahmepersönlichkeit gehuldigt wurde, der es wie kaum einer zweiten gelungen war, der Kunst und ihrem Publikum eine Bühne zu geben.Mit der Zusammenführung von Bildender Kunst und Theater, Performance und Partizipation steht der Deutsche Pavillon in Venedig nicht allein. Die calvinistisch-bilderstürmerische Variante dieses Konzepts zeigt einige Pavillons weiter der holländische Beitrag, wo man sich mit einem konstruktivistischen Bühnenraum zeitlichen Verschiebungen und einer Publikumsbeteiligung verschrieben hat.Dänisches MegafonDas Spektrum ist breit. Auf der einen Seite stehen Zeit- und Raumkapseln wie Mike Nelsons translozierte Istanbul-Behausung, Sigalit Landaus Utopie einer israelisch-jordanischen Salzbrücke über das Tote Meer hinweg oder die Spiegel-Box des japanischen Pavillons, in dem der Betrachter zum Teil der animierten Visionen von Flut und Zerstörung wird. Oder man begibt sich durch die simulierte Aufzugfahrt in die Etagen der indischen Gesellschaft beim Desire Machine Collective, mit dem sich der Subkontinent zum ersten Mal auf der Venedig Biennale präsentiert.Zudem finden sich seminarähnliche Dauerperformances, wie sie im spanischen Pavillon angeboten werden, und die Dänen verzichten bei ihrer Themenausstellung Speech Matters nicht auf eine öffentliche Rednertribüne mit Megafon. Die Besucher werden auch hier zu Zuschauern und Akteuren. Eindrücklich der Beitrag Ägyptens mit der Arbeit Ahmed Basionys, der 32-jährig während der ägyptischen Revolution im Januar 2011 erschossen wurde: Auf fünf großflächigen Projektionen sind Aufnahmen seiner 30-Tage-Performance am Vorabend des Aufstandes und seine Videodokumentation von Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz im Januar montiert. Werbegefasel vom „allgemein Menschlichen“, wie es bei den Auftritten von Syrien oder Saudi-Arabien, China oder Italien gang und gäbe ist, verblasst dagegen.Schlingensief und Basiony verstehen ebenso wie die Israelin Yael Bartana in ihrer Video-Trilogie …and Europe will be stunned, in der sie im polnischen Beitrag die Utopie einer jüdischen Re-Migration nach Polen durchspielt, Partizipation nie als unterhaltenden Selbstzweck, sondern als konstitutives Moment einer politisch-emanzipatorischen Bewegung. Ihre Kunst will überraschen und mitreißen. Sie verlangt Haltung und zwingt zur Stellungnahme.Ausgestopfte TaubenDas trifft auch den Kern der von Bice Curiger geleiteten zentralen Biennale-Ausstellung Illuminations, einer Suche nach Kunst, die erhellt, Einsichten gewährt und im besten Fall Widerständigkeit und Nonkonformismus erzeugt. Ihr gelingt es, der Kunst Verbindlichkeiten zu entlocken, die vom Marktgeschrei und Populären für gewöhnlich vermieden werden. Dazu passt, dass sich Curiger aus der Stadt drei Gemälde des Renaissancemalers und Lichtkünstlers Jacopo Robusti alias Tintoretto leiht, nicht um sie als Kanon großer Kunst vorzuführen, sondern als Beispiel unangepasster künstlerischer Praxis.Mit dramaturgischem Geschick führt sie diese in ihrem Parcours vor, klug, ironisch, unangestrengt – programmatisch in den fünf so genannten Para-Pavillons, in denen Künstler Kolleginnen behausen, in denen die Kunst der Kunst eine Bühne bietet. Zum Auftakt des Arsenale etwa: Dort beherbergt der Chinese Song Dong in einer Rekonstruktion seines hölzernen Elternhauses unter anderem Arbeiten des Franzosen Cyprien Gaillard und der in Marokko lebenden Yto Barrada, die in Fotografien und Video-dokumentationen kulturellen Identitäten nachspüren. Nicht nur hier ergibt sich ein aufschlussreicher Dialog über mediale, kulturelle und nationale Grenzen hinweg.Gewitzt sind die in der Giardini-Ausstellung ubiquitären Tauben, Venedigs Touristenlieblinge und symbolische Friedensstifter – Maurizio Cattelan hat sie ausgestopft unter die Dachkonstruktion gesetzt. Oder die monumentale Barockskulptur Raub der Sabinerinnen, die der Schweizer Urs Fischer eins zu eins in Kerzenwachs gießen ließ und die nun als ironisches memento mori bis zum Ende der Biennale im November dahinschmelzen wird.Die Kunst versprichtNeben der Auswahl besticht in Venedig die Platzierung der Arbeiten, etwa das Video Fife Thousand Feet is the Best von Omar Fast, das in einer analytischen Sitzung die Traumata US-amerikanischer Bomberpiloten im Afghanistankrieg seziert. Man sieht es erst nach einem Abstieg in ein abgedunkeltes Kellergeschoss in den Giardini.Beim Abschluss von Curigers Illuminations-Parcours im Arsenale bietet die Kunst dem Betrachter ebenfalls eine Bühne, auf die er seine Sehnsüchte projizieren kann. Die in Berlin lebende Venezianerin Monica Bonvicini hat halbfertige, glamourös glänzende Show-Treppen in die marode Industriehalle gebaut: als Verheißung und Versprechen einer anderen Welt, der Kunst.