Wie erzählen? Wie Menschen, Szenen, Geschichten entwerfen? Die Antwort fällt der Künstlerin und Performerin Lindy Annis leicht: In den Köpfen der Zuschauer. Annis will, dass die Gefühle, Bilder und Figuren während einer Aufführung wachsen. Sich selbst nimmt sie mit angenehm modulierter Stimme, wie eingefrorenen Bewegungen und einem schmalen Lächeln im bleichen, teilnahmslos wirkenden Gesicht zurück. In Boston aufgewachsen und in New York ausgebildet spielte sie bei der Wooster-Group und entwickelte erste Performances, bis sie 1985 nach Westberlin übersiedelte, wo sie seither lebt und arbeitet. Man muss sich in Geduld üben, bis eine neue Arbeit von ihr gezeigt wird; doch über die Jahre hat sie beharrlich eine eigensinnige und präzise Bühnensprache entwickelt, in der sie mit Lakonie und Witz auf verschiedenen Erzähl- und Darstellungsebenen ihre Recherche zum menschlichen Ausdruck verfolgt - gleichsam ein Warburgscher Bildatlas der Pathosformeln auf theatraler Ebene.
Sie belässt es jedoch nicht bei der Analyse, der Verschiebung und Überlagerung der Mittel und des Materials von der Musik bis zum Text - so konnten bei Annis beklebte Knie oder Handflächen im Verein mit Stimme und Gestik ein ganzes "Monodrama" erzählen. Immer wieder standen Frauenfiguren im Zentrum, die nach der Konstitution des biologischen und kulturellen Geschlechts fragten: In My Life as a Circus von 1996 galt Annis Recherche Jackie Kennedy-Onassis; zwei Jahre darauf wurde Oscar Wildes Salome in einer multimedialen Installation auf das Begehren des weiblichen Körpers hin untersucht.
Bei aller Ironie und Zurückhaltung der Darstellerin sind die entworfenen Figuren stets auch Figuren der Künstlerin selbst: In den Masken steckt auch die Person, die Persönlichkeit Lindy Annis, die sich darin diskret entwirft. Dies gilt insbesondere für ihre jüngste Produktion im neuen Berliner Hebbel am Ufer HAU, in der sie sich in Lady Hamilton´s Attitudes ein Alter Ego schafft.
Schon zu Beginn changiert ihr Spiel zwischen Erwartung und Enttäuschung, Projektion und Gegenspiegelung: Sie betritt nicht, wie erwartet und im TV-Spiel Usus, die Bühne über die erleuchtete Showtreppe, sondern unbemerkt aus einer Nebentür. Weiches Schlaglicht projiziert ihren Schatten an die Seitenwand, und die im Umriss verdoppelte Performerin erinnert an den mythischen (weiblichen) Ursprung von Zeichnung und Bildender Kunst: Eine junge Frau zeichnet zum Abschied den Schattenriss des Geliebten auf einen Fels.
Am Tisch liest Annis zuerst nichts über die Hamilton, sondern von einer trivialen Männerphantasie der Gegenwart, "so this guy walks into a bar, right? and there´s this women", bis von Musik übertönt die nächste Erzähl-Sequenz einsetzt. Ganz die charmante Moderatorin führt sie wie in einer Lecture-Performance nun in das Leben der Lady Hamilton ein, um in einer weiteren Sequenz an einem Pappvulkan im Augsburger-Puppenkisten-Format die Psychogeografie des Vesuvs zu erläutern oder auf einem Podest, begleitet von Texten der Zeitgenossen von Alois Hirt bis Goethe, die Posen der Hamilton einzunehmen. Lindy Annis montiert ihre Mittel und Szenen so, dass die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeiten ihrer Heldin erhalten bleiben und gegenwärtig werden.
Jede Zeit hat ihre Marilyn Monroe erschaffen: Die frühe Napoleonische Ära ließ die spätere Geliebte des Seehelden Lord Nelson Emma Hamilton einen Aufstieg von der Tochter eines nordenglischen Wagenschmieds bis zur Angetrauten des fünfunddreißig Jahre älteren englischen Gesandten am Neapolitanischen Königshof erleben. Mit den Eruptionen des Vesuv und den ersten Ausgrabungen in Pompeji wurde Neapel durch ihre Anwesenheit um eine Attraktion reicher. Goethe vermerkt 1787, Lord Hamilton habe, "nach so langer Kunstliebhaberei, nach so langem Naturstudium den Gipfel aller Natur- und Kunstfreunde in einem schönen Mädchen gefunden." Doch ebenso wie Emma Hamilton eine Projektionsfläche abgab, immer schon medial vermittelt erschien - in Europa kursierten früh Reproduktionen des Londoner Malers Romney, zu denen sie, kaum erwachsen, in antiken Kostümen Modell gestanden hatte -, wusste sie diese auch zu steuern und zu nutzen. Berühmt wurden ihre "Attitudes", was im Deutschen nur unzureichend mit Attitüden übersetzt wird, verweist doch das Englische Wort auf den Einklang von Haltung und Gefühl, von Ethos und Pathos in einer Gebärdensprache, die sich im antiken Kanon eines authentischen Ausdrucks gewiss sah. "Man schaut," so Goethe, "was so viele tausend Künstler gerne geleistet hätten, hier ganz fertig in Bewegung und überraschender Abwechslung. Stehend, sitzend, liegend, ernst, traurig, ausschweifend, bußfertig, lockend, etc., eins folgt aufs andere und aus dem anderen. Sie weiß zu jedem Ausdruck die Falten des Schleiers zu wählen, zu wechseln. Der alte Hamilton findet in ihr alle Antiken, alle schönen Profile der sizilianischen Münzen, ja den Belvederschen Apoll selbst. So viel ist gewiß, der Spaß ist einzig! Wir haben ihn schon zwei Abende genossen. Heute früh malt sie Tischbein."
Lindy Annis Mimesis an die Darbietung der Hamilton bleibt durch ihre neutrale Mimik und Kleidung gebrochen. Annis macht ein versiegtes Darstellungspotential sichtbar, indem die heute affektiert erscheinenden Gebärden, in Annis eigenes Darstellungsset eingebettet werden: Die Ankunft des Heroen Nelson illustriert sie naiv mit einem Papierboot, um die emotional hochgeladene Sterbeszene bei Trafalgar ohne falsches Pathos in der Geste des toten Marat von Jacques Louis David zu präsentieren. Schon 2002 hatte sie sich in Shorts in einer Encyclopedia of Tragic Attitude mit dem Tänzer Xavier Le Roy diesem Potential ironisch genähert. In Lady Hamilton´s Attitudes wird diese Recherche erweitert und ernst genommen. Die Fallhöhe, auf die sich Annis dabei einlässt, ist gewaltig und kann erst durch intelligente Montage vermieden werden: Die kindlich vorgeführte Katastrophe zeigte deutlich, dass die (emotionalen) Katastrophen letztlich in unseren Köpfen stattfinden, dass sie aber medial nur ausgelöst und gespeist werden können.
So baut Lindy Annis ein lakonisches Set von Texten, Musik und Bildern um die Gebärden der Lady Hamilton auf, die mehr als ihre Darbietungen, nämlich ihr Leben aufscheinen lassen. Wenn die Performerin Hamiltons Posen einer Helena, Madonna, Nymphe, Niobe nachstellt, schwingt so nun auch die Trauer darüber mit, was für ein Leben und was an (bürgerlicher) Gefühls- und Ausdruckskultur verloren ging.
Die Frage, ob Emma Hamilton eine emanzipierte Frau gewesen sei, stellt sich für Lindy Annis so nicht; sie war es vielleicht nicht mehr als die einflussreiche Königin von Neapel, deren Vertraute sie zeitweilig war. Aber sie wusste um die Gesetzmäßigkeiten ihrer Präsenz. Hinter jeder ihrer Helenas, Nymphen oder Niobes war immer auch die Persönlichkeit Emma Hamilton zu bewundern. Nun ist mit Lady Hamilton´s Attitudes die Persönlichkeit der Lindy Annis zu erfahren, oder um es mit dem Schlusssatz des Abends zu sagen: "art imitates life imitates art imitates life imitates art imitates life."
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