Der Zuschauer als Rampensau

Bühne Saisonbeginn unter neuer Intendanz: Die Kennedys werden am Thalia Theater in Hamburg in wechselnden Rollen gegeben und der Zuschauer ist eingeladen, Hamlet zu sein

Wie eröffnet man eine neue Spielzeit unter neuer Intendanz, zumal wenn die vorausgegangenen so erfolgreich waren? Man treibt Elefantenwagen durch die Straßen, oder man gibt den Faust in Glamourbesetzung. Eine dritte, weitaus bescheidenere Möglichkeit: Man überlässt dem Publikum die Bühne, wie am vergangenen Donnerstag zu Beginn der Intendanz des vormaligen Burgtheaterdramaturgen Joachim Lux am Hamburger Thalia Theater. Unter einer Heerschar von Bewerbern wurden für 2BEORNOT2BE 250 Darsteller ausgewählt, die ihre Version von Hamlets Monolog allein oder in Gruppen, tanzend oder rappend in Japanisch, Swahili oder auf Platt vortragen konnten. 150 Sekunden lang, auf der großen Bühne. Eine Regie gab es nicht und einzig professionell waren die Pauseneinlagen der Theatermusiker, wie Thomas Kürstner, der das Intendantenvorwort gesungen brüllend komisch darbot. Von sechs Uhr abends bis tief in die Nacht zog sich der amüsante Reigen von 80 Nummern, heftig beklatscht von den Fanclubs im Parkett, als wäre man beim Abi-Abschlußball.

Ein Coup, das Haus war bis zur letzten Minute voll. Und der neue Hausherr signalisierte mit der einmaligen Aktion, wem das Theater gehört, und für wen hier in Zukunft Theater gemacht werden soll: Für die Bewohner der Stadt.

Dominierten am Donnerstag Vereinzelungsphantasien die Bühne, so ging es am Freitag mit The Truth about The Kennedys um Projektionen auf das Kollektiv und die Familie. Luk Perceval und seine Dramaturgen haben einen epischen Text geschaffen, der vom Aufstieg der irischen Einwanderfamilie zum einflussreichsten US-Amerikanischen Clan erzählt. Geschichte als Reenactment oder eine Politrevue mit Gesangseinlagen war nicht zu erwarten. Statt dessen Geschichte und Theater aus dem Geist des Erzählens, bei dem die Wahrheit, wenn überhaupt, im Erzählen und nicht im Erzählten liegt. Eines wollte der Abend in jedem Fall vermitteln: Wie keine andere (Familien)Geschichte leuchtet die der Kennedys hell im Schein des Medialen.

Die Bühne wurde nach hinten durch eine tonnenschwere Wand gestapelter Zeitungen begrenzt, die als Projektionsfläche für dokumentarische Fotografien und Filme dienten: Der Patriarch Jo mit Nickelbrille, Mutter Rose im Kreis der Lieben in Schwarzweiß, Jackie, J.F.K. in der offenen Limousine in Farbe, Ted, der für Obama kämpft. Sonst kein Requisit außer der Drehbühne als sich dauernd drehendes Schicksalsrad. Wir treffen auf ein glänzend abgestimmtes, achtköpfiges Ensemble, das über dreieinhalb Stunden atemloses Berichten über Glück und Leid der Familie aus dem Chor heraus exerziert. Kein Kostüm wird gewechselt. Man verkleidet sich nicht. Und alle Schauspieler, begleitet von einem Gitarristen, bleiben ständig präsent. Keiner außer Bibiana Beglau als Clanmutter Rose, keinem außer Hans Kremer als Patriarch Jo wird eine Rolle fest zugeschrieben. Spielszenen sind wenige dabei, nur Skizzen, Tableaux vivants, in denen sich Situationen ankündigen oder abschließen. Nur kurz schlüpft etwa André Szymanski in die Rolle des Jack, um später Schwarzenegger zu geben.

Man geht nicht mehr identifikatorisch in einer Rolle auf, sondern lässt sich von der Erzählung tragen. Der Zuschauer muss sich sein eigenes Bild machen. Er kennt es aus der Erinnerung, Zeitschriften, dem Fernsehen und dem Internet. Damit sitzt auch er auch hier wieder auf der Bühne – emanzipiert von der Darstellung.

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