Hegels Einsicht, die Kunst habe aufgehört, "das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein", betrifft neben einer zunehmenden Aufspaltung der Wahrnehmung den Verlust des Rituellen. Spätestens mit den reformatorischen Bilderstürmen objektivierte sich die ästhetische Erfahrung. Hegel fährt in der berühmten Stelle seiner Einleitung der Ästhetik fort: "Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen - es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr."
Zwar war damit das moderne Kunstwerk geboren, aber um den Preis der Verarmung seiner Zugangsweisen. Das Knie beugt der neuzeitliche Museumsgänger in der Regel, um das Namensschildchen unter dem Rahmen zu entziffern - zweifellos ein säkularer Rest kultischer Praxis, meist aber kaum dazu angetan, den Bund von Bild und Betrachter zu vertiefen.
Eine von Nina Muecke und Angelika Sommer kuratierte Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste spürte jetzt zwei Monate dem Phänomen der Rituale in der zeitgenössischen Kunst nach. Mit den Arbeiten von 23 Künstlern kaum enzyklopädische Ansprüche erhebend, gibt sie einen Einblick, in welchem Maße sich das Rituelle und das Ritual heute in der Bildenden Kunst niederschlagen.
Sechs durchsichtige Zeichnungen von Joseph Beuys stehen als einzige historische Position für den Anfang, mit dem nach dem Einzug performativer Strategien in die Bildende Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg auch das Rituelle in der Kunst explizit wurde. Markiert Beuys den historischen Anfang der Ausstellung, setzten die Künstlerinnen Nezaket Ekici und Susanne Winterling mit ihren Eröffnungsperformances gleichsam den symbolischen. Sie ergänzten die Vernissage - ein profaniertes Ritual par excellence: Feierte man bei Ekici gemeinsam essend und trinkend auf Teppichen, zog bei Winterling eine einsame Schöne den ganzen Abend stoisch Lines, die ihr ein Projektor auf den Tisch aus schwarzem Rauchglas vorschrieb. Beide Aktionen rückten Momente der Eröffnungszermonie in den Mittelpunkt: Während die eine ritualisierte Geselligkeit zelebrierte, bot die andere Erlebnissucht und Zwangsneurose zur Schau.
Mit den Zeichnungen von Beuys und den Aktionen war nicht nur die Bandbreite der gezeigten Medien über Videoinstallationen bis zur Malerei umrissen, sondern waren auch jene Arbeiten aufgerufen, die den stärksten Eindruck hinterließen, indem sie sich das Rituelle als strukturelles Prinzip zu eigen machen. Ihnen gegenüber standen eine ganze Reihe anderer Arbeiten, die sich auf bestehende Rituale beziehen. Sie zeigen, dass auch die aufgeklärt-neuzeitliche Gesellschaft nicht ohne die Formation archaischer Rituale auskommt, wie die zentralperspektivischen Farbfotografien der Oktoberfestzelte von Julian Rosefeld belegen. Die Säkularisierung der Bilder ging mit der Säkularisierung des Rituals einher. Es zog sich aus dem Kult in die Kulte der Männerbünde, vom Vereinswesen bis zum Militär oder mit Weihnachtsfeier und Saunagang ins Private zurück: Adrià Julià lässt in seinen Videos einen grün lackierten Cowboy in Managermeetings platzen, Ingeborg Lüscher lässt Schweizer Fußballmannschaften in casual-wear gegeneinander antreten. Bei aller Hingabe an die Riten spürt man in diesen Arbeiten die kritische Distanz zum Gegenstand. Anders bei den Arbeiten, denen das Rituelle als Gestaltungsprinzip neue Ausdrucksmöglichkeiten bietet, die einen gleichsam magischen Bund zwischen dem Künstler, seiner Arbeit und dem Betrachter stiften. Das Ritual wird hier nicht abgebildet sondern das Rituelle wird hier zum Formprinzip.
Die Malerei versuchte freilich in der dramatisch beschleunigten Fortentwicklung ihrer Bildererfindungen, den von Hegel reklamierten Verlust des Rituals wett zu machen, was in den Künstlerkulten des 19. Jahrhundert und in den Mythen um Malakt und Faktur einen Höhepunkt und Abschluss gefunden hatte. Der Maler Martin Assig besinnt sich des Rituellen auf zwei Ebenen. Bereits im 19. Jahrhundert entfiel für den Maler mit der ersten Tubenfarbe das Rituelle des Handwerklichen. Assig malt nun mit der aufwändigen Enkaustik-Technik, die mit in erhitztem Wachs eingeschlossenen Pigmenten arbeitet. Doch auch andere kleine Gegenstände, Zettel, Fliegen, Zeichnungen lassen sich in das Wachs einschließen. In seinen Arbeiten Schrank und Vorrat überzieht er einen leeren Holzschrank mit kleinen Baumwollkreisen, manche sind eingefärbt, und 25 unterschiedlich große Kartons, auf denen Zeichnungen erscheinen, sind mit dem lebendigen und noch Jahre nach ihrem Auftrag süß riechenden Material überzogen. Wie Schatzkästchen sind sie auf einfachen Brettern aufgestellt. Jedes erzählt seine eigene Geschichte, ein Archiv, dessen Inhalt nur in der Vertiefung mit dem Außen der Kästchen zu erschließen ist, in den Zeichnungen und seinem Geruch. So ist auch Assigs Schrank ein Allerheiligstes, ein Tabernakel, in dessen Innerstes wir nur durch unsere Einbildungskraft einzudringen vermögen. Assig gelingt in der Reihung der Kästchen, die ihm als Malgrund im doppelten Sinn dienen, wie im Rituellen von Zeichnung und Malerei private Mythologie zu transzendieren, um Geschichte zu erzählen.
Geben sich die Geschichten Assigs introvertiert, begegnen sie einem bei Sophie Calle extrovertiert direkt. Wie in den Vitrinen einer anthropologischen Sammlung stellt Sophie Calle Geburtstagsgeschenke aus 16 Jahren aus - in den zwei ausgestellten Schränken darf man sich die Gästeschar rekonstruieren. Sie notierte dazu "An meinem Geburtstag bin ich immer besorgt, dass mich die Leute vergessen. Um mich von dieser Angst zu befreien, entschied ich, dass ich jedes Jahr, genau die Anzahl an Gästen zu einem Abendessen einladen würde, die der Anzahl meiner Lebensjahre entspricht. Ich machte keinen Gebrauch von den erhaltenen Geschenken. 1993, im Alter von vierzig Jahren, beendete ich dieses Ritual." Paul Auster wird in seinem Roman Leviathan dieses Ritual aufgreifen und die Figur der Maria Turner nach Sophie Calle so gestalten, dass diese die zwangsneurotischen Vorgaben der fiktiven Gestalt als inszenierte und ritualisierte Wirklichkeit in die Arbeit Chromatic Diet, Essen nach Farben, umsetzt.
Neben Martin Assig und Sophie Calle, Cornelia Schleime, Yuan Shun, Ulrike Oettinger und Mariko Mori, die stellvertretend für einen produktiven Umgang mit dem Rituellen genannt werden können, ragte die Arbeit des längst zum "Global Player" avancierten Zhang Huan schon durch den radikalen Einsatz des Körpers heraus: Ob in Foto- oder Videoarbeiten, stets steht sein Körper als Medium im Zentrum, ob selbstauferlegten Entbehrungen oder Exerzitien ausgesetzt, erinnert er durch Performances, deren Ablauf er religiösen Zeremonien ablauschte, daran, dass (rituelle) Erneuerung des Einzelnen oder der Gesellschaft am eigenen Leib zu erfahren ist.
Dem Ausstellungsbesucher wird die Erneuerung allerdings etwas leichter gemacht. Der Berliner Künstler Via Lewandowsky hatte ihm einfach eine Liege hingestellt. Mit Hilfe eines angeblich in jahrelanger Forschung in Japan entwickelten Schüttelgeräts, auf das die Beine gelegt werden, darf man sich entspannen. Der Titel der Arbeit: Vergiss dich!
Rituale in der zeitgenössischen Kunst. Noch bis 11. Mai 2003 in der Berliner Akademie der Künste, Katalog 7 EUR
Abschlussveranstaltung, Podiumsdiskussion: Real Live / Kommunikation /Spiritualität mit Via Lewandowsky, Renate Schlesier und anderen am 11. Mai 2003 17 Uhr
Zhang Huan in der Berliner Galerie Volker Diehl, Berlin bis 22. Mai.
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