Gleichgesinnte Schläfer

Ein Nachruf auf das "Postdramatische Theater" Was die Installation "Belagerung Bartleby" im Berliner HAU1 über das Ende des Theaterfestivals "reich und berühmt" sagen kann

Das Theater ist leer geräumt, die Schranke zwischen Zuschauerraum und Bühne gefallen, nichts außer dem leeren Raum: weit, großzügig, offen. Die Betrachter, Beobachter und Beobachtete zugleich, flanieren durchs Haus und machen es sich zu eigen. Sie staunen über das kostbare Furnier, bewundern das elegante Rund des Rangs, blinzeln in die lichte Höhe des Kulissenhauses. Alles, was an Theater erinnerte, Maske, Bühnenbild, Bestuhlung ist entfernt; es würde die Schönheit dieses Hauses nur stören.

Das Theater als absoluter Projektionsraum: Unbelastet von seiner Geschichte, erfüllt von einer unschuldigen Gegenwart - das war Ende April eine Phantasie zu Anfang einer Theaterinstallation der Regisseurin Claudia Bosse mit dem Titel Belagerung Bartleby im Hebbeltheater Berlin. Vergleichbar dem konzeptionellen Ansatz, der bereits vor vier Jahren von Hannah Hurtzig und Anselm Franke in den Hamburger Kammerspielen realisiert wurde, als sie diese vom Keller bis zum Dach in eine technisch und medial aufgerüstete Filiale für Erinnerung auf Zeit verwandelten, sollte das ganze, 1908 errichtete und durch wundersame Fügung erhaltene Haus fünf Tage lang belagert, besetzt und bespielt werden. Doch im Gegensatz zur Bilderflut in Hamburg veranstaltete man in Berlin einen Bildersturm und verweigerte sich jeder Darstellung und Repräsentationsform. Wo in Hamburg munter die Monitore flimmerten, waren in Berlin Schaumstoffmatratzen ausgebreitet, auf denen man vom Theater allenfalls träumen konnte. Doch schon ein Tag nach Beginn der Belagerung zeigten sich erste Zersetzungserscheinungen. Für die kleine Gemeinde der Besatzer fehlten offenbar klare Spielregeln und so zerfiel die Szene zwischen Sit-In und bemühter Schreibaktion.

Es ist Zufall, dass diese Inszenierung, die sich dem Theater so radikal verweigert, mit dem Ende einer Veranstaltung zusammenfällt, die 1996 von der Dramaturgin Kathrin Tiedemann und der Volksbühnenproduzentin Aenne Quiñones ins Leben gerufen wurde: Nach acht Jahren findet das im Berliner Podewil ausgetragene Festival reich und berühmt 2004 nicht mehr statt. Das liegt zum einen an der (finanziell) ungewissen Zukunft des Haus in der Klosterstraße. Zum anderen aber stellt sich die Frage, ob sich das Festival und seine Formen vielleicht überlebt haben.

Die geschilderte Aktion Claudia Bosses, die bereits 1997 zum zweiten Festival reich und berühmt damals das Podewil mit Jelinek-Texten und Schlafsäcken besetzt hielt, lässt sich demnach als symptomatisch betrachten und markiert zusammen mit den erfolgten und bevorstehenden Schließungen der Spielstätten wie des Frankfurter TAT, dem Dresdner TIF und schließlich des Berliner Podewil eine Zäsur, die das in den 1990er Jahren etablierte "Postdramatische Theater" im Kern betrifft.

Der Begriff "Postdramatisches Theater", wie er 1999 von dem Theoretiker Hans-Thies Lehmann lanciert wurde, war unscharf, da er jede Erscheinungsform des Theaters und der Performance zusammenfassen wollte, die nicht der deutschen Sprechtheatertradition entsprach - das Theater Robert Wilsons war damit ebenso gemeint wie das Heiner Müllers, Produktionen Stefan Puchers ebenso wie die der Gruppe Forced Entertainment. Im engeren Sinn steht der Begriff für eben jene Theaterformen, die Mitte der neunziger Jahre auf Spielstätten wie der Hamburger Kampnagelfabrik, dem Frankfurter TAT und dem Berliner Podewil etabliert wurden. Mit dem Ende von reich und berühmt gehen nun nicht nur das Format, sondern auch Ansprüche und Inhalte verloren. Oder sind sie nur aufgehoben?

Reich und berühmt war mit ironischem Seitenblick als Gegenveranstaltung zum Betrieb des Theatertreffens gegründet worden. Es vertrat offensiv interdisziplinäre ästhetische Konzepte, die ihren Ausgangspunkt vor allem in kollektiven Arbeitszusammenhängen und Organisationsformen hatten. Doch Stefan Pucher, Harriet Maria Böge und Peter Meining, die die Gründungsveranstaltung im Podewil 1996 bestritten, bewegen sich mittlerweile lieber im Mainstream; René Polesch bespielt den Berliner Prater, während Falk Richter als Hausautor an der Berliner Schaubühne Kapitalismuskritik betreibt. Und nicht zuletzt: Die Real-Live-Performance-Truppe Rimini-Protokoll hat es 2004 mit ihrer HAU-Produktion zu einer Einladung zum Berliner Theatertreffen geschafft. Das Postdramatische Theater ist also im Betrieb angekommen. Vielleicht jedoch um den Preis seiner produktiven Basis.

Neben der Formierung einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, ist die Dekonstruktion, die Analyse und der multimediale Remix des theatralischen Materials konstitutives Moment des Postdramatischen Theaters. Dieses Moment hat sich auch in die neuen Produktionszusammenhänge hinüber gerettet. Das Postdramatische Theater war vor allem von der Frage bestimmt, wie Authentizität und Präsenz herzustellen sei, nur dass die Antwort nicht im Dramentext und Mimesis, sondern in außertheatralischen Spielsituationen und der Pop-Kultur gesucht wurden. Die Bühne dient als Plattform, auf der die theatralen Mittel gebrochen und montiert werden.

Viele seiner Impulse erhielt das Postdramatische Theater von der Bildenden Kunst. Aber auch Körper und Bewegung erfuhren neue Ausdrucksweisen - am radikalsten bei der Gruppe Goat-Island aus Chicago, die ihre Performances in klösterlicher Zurückgezogenheit entwickeln. Ebenso wie die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben werden sollte, suchte man die Authentizität des Spiels dadurch herzustellen, dass auch die Unterscheidung von Darsteller und Zuschauer in der Aktion verwischte. Der Darsteller war in seiner Figur auch immer Person, einer von uns; das "Guten Abend, ich bin der Michael!" war als Subtext stets präsent.

Hinter dieser inszenierten Authentizität drückte sich die Sehnsucht aus, eine Theatergemeinde im emphatischen Sinn zu stiften, das Kollektiv - wenn auch nur für die Dauer der Aufführung - um einige von da draußen zu erweitern. Ob in den absurden Spielshows Gob Squads oder den inszenierten Gerichtssituationen von Rimini-Protokoll, immer war die diskrete Einladung zu einer gerechteren Gemeinschaft zu hören.

Das Tabula Rasa im HAU, der anfangs weiße Raum war für wenige Stunden von dieser Phantasie getragen. Claudia Bosses Anweisungen an die Performer beschränkten sich darauf, es den epheseischen Siebenschläfern gleich zu tun, die schlafend die Jahrzehnte der Christenverfolgung in einer Höhle überdauerten. Dabei verkam das Hebbeltheater, weit von einem produktiven Ort entfernt, zu einem Lager.


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