Heinrich Zille in Berlin

Ausstellung Er hat es vom Rand der Gesellschaft in die Mitte geschafft, der Zeichner und Fotograf Heinrich Zille, vom Milljöh, wie er es nannte, ins Milieu, wie ...

Er hat es vom Rand der Gesellschaft in die Mitte geschafft, der Zeichner und Fotograf Heinrich Zille, vom Milljöh, wie er es nannte, ins Milieu, wie sein Biograf Winfried Ranke die Karriere Zilles charakterisierte. An der geographischen Peripherie ist er jedoch immer geblieben. Die Familie Zilles floh in den 1870er Jahren vor Schuldnern aus Sachsen in die Reichshauptstadt und fand im Lichtenberger Grenzweg ein bescheiden proletarisches Zuhause. Nach Heirat und Umzug des Arbeitgebers, der "Photographischen Gesellschaft", wo er nach der Ausbildung 30 Jahre bis zur Entlassung als Druckfachmann beschäftigt war, ging es vom östlichen an den westlichen Stadtrand in die Charlottenburger Sophie-Charlotten-Straße 88, damals gnadenloses Grenzland der Wilhelminischen Mietskasernenstadt zur Brandenburger Wüste. Hier entstanden Zilles für den heutigen Betrachter beeindruckendste Arbeiten: Schwarzweißfotografien fernab des Sentimentalen, Kinder vor einem Bretterzaun, Wäschestücke auf der Leine, die wilde Müllkippe vor dem Haus. Oft Vorlagen für Zeichnungen, Momentaufnahmen für den privaten Gebrauch, sind sie erst spät bekannt geworden.

Sie werden jetzt in der Retrospektive zu Zilles 150. Geburtstag in der Akademie der Künste und der Stiftung Stadtmuseum Berlin gezeigt. Die Auswahl der 1985 von Thomas Struth angefertigten Silbergelatineabzüge und eine Gegenüberstellung mit dem zeichnerischen und druckgrafischen Werk rechtfertigt bereits eine Erinnerung an die Berliner Ausnahmeexistenz. Doch man fragt sich kurz, warum ein bis heute so populärer Künstler in einer derart aufwändigen Ausstellung gezeigt werden muss. Und tatsächlich tut sich der Kurator und einstige Vizepräsident der Akademie, Matthias Flügge, in der Präsentation schwer mit seinem Mann.

Da ist zum einen der lieblos gestaltete Katalog bei Schirmer und Mosel. Der setzt schon auf dem Cover neben jedes Foto eine passende Zeichnung zum Beleg, macht aus der Berliner Petri- eine Nikolaikirche und versteigt sich zum Thema "Lumpenproletariat" wortspielerisch in der Sentenz, die Lumpen kämen heute aus China. Da ist zum anderen der überinszenierte Eingangsbereich der Ausstellung, der die Popularisierung und das Berliner Identität stiftende Image von "Vater Zille" vorführen will. Auf groben Brettern darf sich der Besucher - mittenmang - auf der Bühne fühlen, in einem Kiosk Zilleiana betrachten, den Künstler als bärbeißigen Ritter Wedigo von Plotho bestaunen. Zille hatte dem Freund und Bildhauer August Kraus Modell für die Figur in der Siegesallee in Tiergarten gestanden. Wie die Eingangssektion weiter zeigt: Bereits die Berliner Gesellschaft der 1920er Jahre hatte ihn mit Werbeplakaten à la Zille und Zille-Bällen todgestreichelt. Die harte, gesellschaftskritische Kunst kam da längst von den Jüngeren, von George Grosz, Otto Dix, John Heartfield. Doch dieser Kontext fehlt. Ebenso wie man wieder nichts über die Lebensverhältnisse und die urbane Situation um 1900 erfährt. Bruch und Kontinuität der Arbeit Zilles nach dem 1.Weltkrieg erklärt sich zum Beispiel vor allem durch den Abriss des legendären Krögel und des Scheunenviertels - Schauplätze umfangreicher Stadtumbaumaßnahmen mit sozialpolitischem Hintergrund bereits vor dem Weltkrieg. Damit ist mit der Zille-Ausstellung die Chance vertan worden, exemplarisch nach der Reichweite und den Bedingungen sozial engagierter Kunst zu fragen.

Heinrich ZilleKinder der Straße. Zeichnungen, Grafik, Fotografie, Akademie der Künste, Pariser Platz 4, bis 24. März 2008 und Stiftung Stadtmuseum Berlin, Ephraim-Palais, Poststraße 16, bis 2. März 2008. Weitere Stationen: Altenburg (Frühjahr), Villingen-Schwenningen (Sommer). Der Katalog kostet 29,80 EUR.

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