Wollte man vor Guy Debord und Friedrich Nietzsche wieder nach dem begrifflichen Instrumentarium suchen, das die Avantgarden und ästhetischen Revolten des zwanzigsten Jahrhunderts erfasst, dürfte die Adresse wohl im Jena des Jahres 1806 liegen: "Die Tätigkeit des Scheidens", schreibt dort Hegel in seiner Vorrede zur Phänomenologie, "ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und größten oder vielmehr der absoluten Macht." Diese Macht ist eine poetische. Sie manifestiert sich also ästhetisch eo ipso in der Kunst. Sie ist das erste Feld, in dem sich "die ungeheure Macht des Negativen", gleichsam das energetische Zentrum von poetisch-rationaler wie ästhetischer Produktivität, niederschlägt. Aus dem sicheren Abstand von 25 Jahren müssen heute die künstlerischen Bewegungen der wenigen Jahre um 1978 als der letzte gültige Ausdruck der "Macht des Negativen" angesehen werden.
Wo sich heute abermals auf alle Felder der Mehltau legt, scheint es nahe liegend, dass sich die leicht ins Abseits geratene Generation, die den Aufbruch der achtziger Jahre inszenierte, nun ihrer wilden Jahre besinnt. Jürgen Teipels Docu-Roman Verschwende deine Jugend (Freitag 30/2002) - Steilpass zu Benjamin Quabecks Film gleichen Titels und der Ausstellung Zurück zum Beton in der Kunsthalle Düsseldorf liest sich hierfür symptomatisch. Schon vor fünf Jahren veröffentlichte Thomas Meinecke seine Texte aus der seit 1977 selbst herausgegebenen Zeitschrift Mode Verzweiflung, aus deren Machern sich die Band Freiwillige Selbstkontrolle rekrutierte, und Diedrich Diedrichsen ließ sein Buch Sexbeat aus dem Jahr 1985 neu auflegen. Der Retro-Hype also auf vollen Touren und was als sorgsame Recherche begann, landet wieder im Sog der Kulturindustrie.
Diesem Sog entzieht sich nun eine kleine und intelligente Ausstellung der Neuen Berliner Gesellschaft für Bildende Kunst, NGBK, indem sie den Zeitraum von 1976 bis 1985 nach den produktiven Interferenzen zwischen Bildender Kunst, künstlerischer Aktion und Musik befragt. Der Ausstellung gelingt es, durch die ihren Titel lieber zu viel als zu wenig konterkarierende, sparsame Auswahl und eine intelligente Inszenierung das produktive Potential dieser Jahre zu sichten und aus der Distanz nachvollziehbar zu machen. Hegel beschrieb den Geist nicht als das Positive, "das vom Negativen wegsieht", sondern er "ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt."
In diesem Beharren und Eigensinn sind sich die Ausstellungsmacher und ihr Gegenstand einig. Sie verzichten daher bis auf Bernd Zimmers schnell in einer Nacht gemaltes 27 x 3 Meter großes Bild U-Bahn, 1/10 Sek. vor der Warschauer Brücke aus dem Jahr 1978 auf die Präsentation "Zeichnung und Malerei" und betonen so den konzeptuellen Ansatz der Bewegung, die im Intermedialen und in kollaborativen Arbeitszusammenhängen einen Aufbruch gegen repräsentative Konzepte der Kunst wie deren Helden wagte.
Anlass für die Ausstellung war die Eröffnung des legendären Lokals S.O.36 vor 25 Jahren, am 12. August 1977, das den Ausstellungsräumen der NGBK schräg gegenüber in der legendären Kreuzberger Oranienstraße liegt. Dadurch, dass das Kuratorenteam sich nicht um diesen Ort der Schau bemüht hat - er wird zum Jubiläum geschlossen sein und renoviert - kommt es nicht zur Versuchung einer falschen Beschwörung oder gar Revitalisierung der Szene. Vielmehr spiegelt sich hier die Zeit kritisch über die Straße hinweg: Betritt man den ebenso wie das S.O.36 schlauchförmigen Raum des NGBK durch eine Blackbox, die in fünf Stunden bekannte und rare Titel von Abwärts über Malaria! bis Zwitschermaschine präsentiert, leitet Zimmers Malerei - sie entstand zu einem kurzfristig abgesagten Konzert im S.O.36 - zu einer wandfüllenden Innenansicht des S.O.36 nach einer Schwarz-Weiß-Fotografie.
Dem Bild gegenüber sind originale Ausgaben des Anfang der Achtziger von HdK-Studenten in Westberlin herausgegebenen Fancine GEPEIN, einer schnell in kleiner Auflage kopierten Zeitschrift, einem damals wie Polaroid und Video neuen Medium, frech an die Rückwand der Blackbox geklebt.
Die erste Blackbox findet ihre Spiegelung in einer zweiten am Ende des Saals. Dort lassen sich die vorne abgespielten Titel noch einmal abrufen, während in der 1978 entstandenen Arbeit PHANTOME von Bettina Sefkow drei Dia-Projektoren bearbeitete Kopien und Fotografien an die Wand werfen. Dort kämpfen Comic-Helden neben teilnahmslosen Zeigenossen, die gelangweilt an Ampeln in ihren Autos auf das nächste Grünsignal warten. Ebenso wie Sefkows Dia-Schau oder Zimmers Bild sind die Arbeiten der Zeit ephemer, schnell aus der Situation geboren, Teil eines intensiven Augenblicks, nicht für die Ewigkeit bestimmt.
Dass sich dieser Augenblick nicht wiederherstellen lässt, sondern dessen produktive Kraft nur erfahrbar wird, indem das Präsentierte Negative seinerseits gebrochen wird, sind sich die Kuratoren wohl bewusst. Gegen die ursprüngliche Intention der Macher stellen sie das einzige Objekt der Ausstellung "Chöre und Soli", ein Abspielgerät für Miniphonplatten, der Künstlergruppe Die Tödliche Doris auratisierend in eine Glasvitrine. Daneben finden sich Fotoarbeiten von Fetting, Kippenberger, und Thomas Wachweger - das Triptychon magisch anmutender Kampfmasken, die mit Aggressivität und Kraft aus dem Dunkel herauswachsen. Die Performerin Anne Jud ist mit einer Fotoserie vertreten, die sie im S.O.36 aufnahm. Sie hatte sich dort 1978 für eine Nacht in schwarzer Latexmontur einschließen lassen - ein Videofilm, der neben anderen in der Ausstellung zu sehen ist, zeigt ihr subversives Gegenspiel: Dort sitzt sie 24 Stunden im Zeitraffer auf weißer Couch an der Berliner Stadtautobahn.
Die Ausstellung wie das von Petra Reichensperger redigierte Begleitbuch zeigt das kontrollierte Überschreiten der Grenzen, wobei es galt, den Moment der Negation so lange hinauszuzögern, um in der Transgression nicht in Position oder gar in Affirmation zu landen. Es galt daher jede Grenze einzureißen: die Grenze zwischen "High" und "Low" - alles konnte benutzt werden, die Grenze zwischen Produzent und Konsumierendem, - jeder konnte etwas machen, und zwischen den Medien. Ob man fotografierte, ein Bild malte oder Musik machte, war zweitrangig, was zählte war die Performanz. "Wir wollten kurze, heftige Sachen," so Joachim Schächtele, einer der Initiatoren des S.O.36, das unter dem Titel Wall City Rock Festival mit elf Gruppen eröffnete. Bereits elf Monate später wurde das S.O.36 am 30. Juni 1978 wieder geschlossen, getreu des an dem Lokal beteiligten Martin Kippenberger: heute denken - morgen fertig. Kurz nach der Schließung wird Kippenberger von einem aufgebrachten Gast in der Oranienstraße zusammengeschlagen. Aus der mittlerweile zur Ikone gewordenen Fotografie des Künstlers im Krankenbett von Jutta Henglein entsteht wenige Zeit später sein Ölporträt Dialog mit der Jugend.
Kippenbergers Bild zeigt denn auch drastisch die Bande der gesuchten Entgrenzung, den eigenen Körper. Aber, so Mike Hentz, "man setzt den Körper ein, um ein Klima zu verändern." So war die Provokation der Gruppe Minus Delta T auch auf direkt Konfrontation aus. Mike Hentz marschiert 1978 mit Hitlergruß in SS-Uniform durch den Kölner Karneval und kassiert Prügel, Cassia Hecker singt nackt kopfüber angeschnallt bei MannaMaschine und Cornelia Schleimes Performances werden 1983 in die Realität überführt, indem sie mit einer Gasmaske bewehrt durch den Prenzlauer Berg spaziert, um ihre Ausreise zu erzwingen. Die Faszination dieser Aktionen liegt darin, dass sie einem Abgrund ins Auge sehen und sich lange an dessen Rande aufhalten ohne hineinzustürzen. Sie erreichen dadurch eine Intensität, die sich nicht repräsentieren lässt - hier versagt jede Vermittlung. "Das Wahre", schreibt Hegel, "ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist." In der Kreuzberger NGBK kann man noch einmal wunderbar abtanzen!
Lieber zuviel als zu wenig. Kunst, Musik und Aktionen zwischen Hedonismus und Nihilismus (1976-1985) im der Berliner NGBK, Oranienstaße 25, bis 5. September; Buch zur Ausstellung 12 EUR
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