Hören-Sehen

Chor der Vergessenen Die deutsche Erstaufführung von Debbie Tucker Greens "Stoning Mary" an der Berliner Schaubühne

Es sind doch immer wieder die gleichen Bilder: Ein fanatisierter Mob oder posierende Jungs mit der Kalaschnikow im Anschlag oder ausgemergelte Gestalten auf der Flucht, das wenige Hab und Gut auf dem Rücken. Was den Agenturen zum Thema Schwarzafrika einfällt, folgt weitgehend medialen Stereotypen.

Wenn die junge schwarze Britin Debbie Tucker Green in ihren Dramen von Afrika erzählt, verweigert sie sich diesem Spektakel konsequent. Sie baut auf Sprache, Dialog und Szene. Am Theater hat sie als Inspizientin begonnen. Sie verfasste nebenher Gedichte, bis sie ein Freund ermunterte, ihr erstes Theaterstück, Born Bad, zu schreiben. Ihr viertes, Stoning Mary, kam vor zwei Jahren am ehrwürdigen Londoner Royal Court Theatre zur Uraufführung. "Ich war daran interessiert, danach zu fragen, was wir sonst nicht sehen oder hören", bemerkte Debbie Tucker Green damals gegenüber dem Guardian. Jetzt brachte die Berliner Schaubühne Debbie Tucker Greens Stoning Mary zur deutschen Erstaufführung.

"Nehmen Sie meine Eintrittskarte. Ich brauche sie nicht", fleht die schmale, zerbrechlich wirkende Schauspielerin Lea Draeger in der letzten Szene der Aufführung. Sie drückt das Billet in die Hand eines Zuschauers und geht ab. Damit hätte sie auf Wunsch ihrer Schwester zu deren öffentlichen Hinrichtung kommen sollen. Doch schon davor hatte sie für ihre Schwester, die sich an einem jungen Soldaten für die Ermordung ihrer Eltern rächte, nur Vorwürfe und Neid statt Mitgefühl und Hilfe übrig. Von den Anfangs vierzehn Darstellern stehen jetzt nur noch drei, Stefan Hufschmidt als Vollzugsbeamter, Elzemarieke de Vos als Mary und Jule Böwe als Mutter des Kindersoldaten in dem karg mit Stühlen und vier Mikrofonen ausgestatteten Beton-Halbrund des Saal C. Auch jetzt folgt kein Theaterdonner, kein reitender Bote: "Marys Haar wird vom Vollzugsbeamten abrasiert. Es regnet. Die Mutter hebt den ersten Stein", heißt es in der Regieanweisung. In der Schaubühne gibt es keinen Regen. Der Regisseur Benedict Andrews betreibt klugen Reduktionismus bis zum Schluss - Spektakelverweigerungstheater, das der Vorlage sehr nahe kommt. Mary mit dicker Brille, buntem Faltenrock und weißen Turnschuhen schlägt schmerzverzerrt die Arme über den Kopf, während der Vollzugsbeamte mit einem Elektrorasierer über ein Mikrofon streicht, das das Geräusch der kleinen Maschine ohrenbetäubend verstärkt. Damit endet der knapp zweistündige Abend.

Wie die Regie die Bilder im Kopf entstehen lässt, setzt auch die Textvorlage von Debbie Tucker Green auf den aktiven Zuschauer. "Alle Personen sind weiß", fordert die Regieanweisung, scheinbar entgegen dem Selbstverständnis der Autorin: "Ich bin Schwarze. Ich beschreibe schwarze Charaktere." Diesem Gegensatz entspricht, dass das Stück in dem Land spielen soll, in dem es aufgeführt wird. Dadurch entsteht Reibungsfläche, die gewohntes Rezeptionsverhalten bricht. Erst im Verlauf der fünfzehn Szenen werden langsam Themen und Konflikte unter einer Oberfläche banal erscheinender Auseinandersetzungen sichtbar. Drei Paare stehen sich unvermittelt gegenüber: Die beiden Schwestern, ein Mann und eine Frau, jeweils von zwei Schauspielern gespielt, wobei je einer die innere Stimme übernimmt, sowie ein Elternpaar. Die Streitigkeiten hinter ihrer aggressiven Rhetorik könnten in jedem Wohlstandshaushalt Mitteleuropas ausgetragen werden, würden hinter dieser Oberfläche nicht andere Konflikte lauern, die sie letztlich teilen: Soziale Instabilität, Armut, Rechtlosigkeit.

Debbie Tucker Green deutet dies in ihren Figuren nur an: Den ungerechten Prozess gegen Mary, die AIDS-Erkrankung des Paares, das sich die Medikamente nur für einen leisten kann, der Verlust des Sohns der Eltern an die Soldateska. Indem die gesellschaftlichen Verwerfungen ohne Agitprop, unsentimental und beiläufig verhandelt werden, kommen einem die Figuren und ihre existenziellen Abgründe sehr nahe. Durch Debbie Tucker Greens Theater werden Menschen sichtbar, die nicht mehr aus einer Parallelwelt mediengerecht vorgeführt werden, sondern in ihrer Wut und Verzweiflung gehört werden wollen.


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