In wenigen Tagen wird die Theatersaison 2004/05 eröffnet. "Handke kommt" plakatiert Peymanns Berliner Ensemble trotzig über der Spree. Darf man die Ankündigung als Verheißung oder Drohung lesen?
Denn das "Handke kommt" - das Plakat wirbt für einen Lesemarathon und eine Uraufführung eines Stücks des 62-Jährigen - erinnert fatal an Rolf Hochhuths McKinsey kommt, das in der vergangenen Saison zwar im Vorfeld gehörig für Wirbel sorgte, aber dann als allzu naive Kapitalismuskritik in der brandenburgischen Provinz floppte.
Wollte Hochhuth mit holpernder Dramaturgie politisch korrekt den Anschluss halten, steigt Peymann mit Handkes Untertagsblues in einem 30 Darsteller starken Stationendrama in die Untergründe zwischenmenschlicher Beziehung im Format eines "Welttheaterspiels" und behauptet nun ebenso, unsere Gegenwart vom Dunkel her auszuleuchten.
Zuletzt wird in der kommenden Saison auch mit Botho Strauß zu rechnen sein, und das gleich mit zwei Uraufführungen, am BE und am Münchner Residenztheater. Strauß, Handke, Hochhuth, Peymann, das sind, mit Verlaub gesagt, alles alte Herrn, gut über die 60. Kann das Theater für Zeitgenossen sein, wie man großspurig verkündet?
Wirft man einen Blick in die Statistiken der deutschsprachigen Bühnen, fällt die Bilanz ernüchternd aus: Allüberall verlässt man sich aufs bekannte Repertoire. Junge Gegenwartsdramatik spielt nur am Rande eine Rolle.
Zwar haben es mittlerweile Regisseurinnen der sechziger und siebziger Jahrgänge in Leitungspositionen geschafft, aber die Autoren ihrer Generation sind irgendwie abhanden gekommen. Da gibt es Moritz Rinke, Dea Loher oder ein Fritz Kater, doch wo ist der Rest?
Polemisch könnte die Antwort lauten: Die junge Autorin fristet ihr Dasein vor allem auf den landauf landab eingerichteten Stückemärkten, die einzig dazu geschaffen worden sind, um eine Aktualität und Gegenwärtigkeit des Sprechtheaters vorzugaukeln.
Dass das Gegenwartsdrama auf den deutschen Brettern im Gegensatz zum englischsprachigen Raum einen verschwindend geringen Anteil besitzt, war eine Einsicht, die zeitgleich 1976 zu der Einrichtung der bis heute alljährlich durchgeführten Stückemärkte in Heidelberg und Berlin zum Theatertreffen führte. Andere, wie der vom Schauspiel Hannover, dem Hamburger Thalia Theater oder F.I.N.D. der Berliner Schaubühne sind in den vergangenen Jahren dazugekommen. Dort werden jeweils ein gutes Duzend neuer, nicht nur deutschsprachiger Stücke in so genannten szenischen Lesungen vorgestellt, in denen eine Auswahl der eingereichten Arbeiten nach wenigen Probetagen von Schauspielern gelesen werden.
Die Jurys kämpften sich in diesem Jahr pro Veranstaltung im Schnitt durch 300 Einsendungen. Dabei fiel die Auswahl schwer. Bei allen Wettbewerben fand sich eine Vielzahl von Stücken, die über die Schilderung von Selbstbefindlichkeiten nicht hinaus kam, denen dazu "Humor und eine Draufsicht" auf Figuren und Situationen fehlte, wie Jutta Wachowiak, Jurymitglied in Berlin treffend befand, denn selbst noch bei den ausgewählten Werken war in Berlin, Hamburg und Heidelberg diese Tendenz zu spüren.
Tatsächlich dreht sich auch bei den Preisträgerinnen viel ums Eingemachte: die Familie, Tyrannenväter, Mütter und verletzte Töchter. Die 21-jährige Grazerin Gerhild Steinbuch zeigte ein ödipal abhängiges, "braves Kind" in Kopftot und gewann vor allem durch ihre gerade und treffende Sprache den 1. Stückewettbewerb der Schaubühne. In Heidelberg reüssierte Morna Regan mit dem Stück Midden, das fünf Migrantinnenschicksale zu verknüpfen sucht, - sie gewann den Europäischen Autorenpreis. Die Litauerin Laura Cerniauskaite schließlich war die Preisträgerin des Berliner Stückemarkts, die mit Lucy auf dem Eis von Trost- und Lieblosigkeit einer Beziehung immerhin mit Lakonie und Witz erzählt.
Doch oft hat man den Eindruck, dass die Figuren von den Autorinnen nicht recht geliebt, sondern eher wie Puppen an den Fäden gezogen werden. Dazu noch ist - wie bei Cerniauskaite, deren Vorbild in Haltung und Dramaturgie bei dem Filmregisseur Aki Kaurismäki liegt - bei einem überwiegenden Teil der präsentierten Arbeiten in Berlin und Heidelberg das Schielen nach dem Drehbuch - eine Dramaturgie in schnellen Schnitten - überdeutlich.
Diesem Blick entspricht die thematische Enge. Salopp gesagt scheint außer dem Familiendrama noch politisches Engagement verlangt, notfalls wird das gut gemeinte Migranten- oder das Globalisierungs-Medien-Böse-Drama bemüht.
Diese Genrepalette spiegelt sich auch in den Uraufführungen der bereits etablierten Jüngeren wieder. Dabei sticht vor allem Armin Petras alias Fritz Kater heraus, der sein teilautobiografisches, schön-krudes in wilden Schnitten durch die ost-westdeutsche Geschichte führendes WE ARE CAMERA / jasonmaterial präsentierte, das als Auftragswerk für das Thalia Theater Hamburg entstand. Dea Lohers Das Leben auf der Praça Roosevelt, ebenso für das Thalia entstanden, und Falk Richters Hotel Palastine bringen es nicht über das naive Abbilden hinaus: krasser Folklorekitsch, der in Sozialromantizismus hier und didaktisch biederes Dokumentartheater dort abrutscht, das in der Kritik in die Affirmation des Kritisierten umkippt.
Doch so wichtig Stückemärkte und Hausautoren für die Theater sind, gehen sie in der Regel von einem obsoleten Begriff der Autorschaft und einem überholten Verhältnis von Text und Aufführung aus, was sich in der Textzertrümmerungen und 90-Minuten-Aufführungen von Klassikern, nicht dementiert, sondern als aggressive Idolatrie des Autorentextes gerade bestätigt. Von diesem Standpunkt aus gesehen, darf es nicht wundern, dass der autonom produzierende Theaterautor eine aussterbende Spezies, das Theaterstück eine aussterbende Gattung ist.
Elfriede Jelinek, die für ihre 160 Seiten lange handlungsfreie Suade Das Werk nach 2002 zum zweiten Mal den Mühlheimer Dramatikerpreis zugesprochen bekam, bringt das gegenwärtige Verhältnis von Text und Theater auf den Punkt, wenn sie gegenüber dem ORF bekennt: "Ich habe immer wieder gesagt, dass meine Theaterstücke nur zur Hälfte von mir sind, die andere Hälfte schreibt der Regisseur, der sich als Koautor mit einschreibt."
Im letzten Jahrzehnt hat eine entscheidende Verschiebung der Autorschaft stattgefunden, die den Text als tragendes Moment der Aufführung in den Hintergrund hat treten lassen. So haben Frank Castorf und sein Kollege Christoph Marthaler an der Berliner Volksbühne schon vor Jahren aufgehört, Theatertexte zu inszenieren. Castorf bearbeitet mit seinen Dramaturgen lieber Prosatexte, die er jedoch als Spielgerüst für ein obsessives Theater versteht, eine Anregung und keine Textvorlage, die es zu exekutieren gilt. Castorf geht es nicht darum, aus einem anderen Medium wie dem Film für das Theater neue Themen oder Energien zu ziehen, sondern die Bühne von ihren Altlasten, wie der Deutungslast und Dramaturgie der tradierten Textformen, zu entsorgen.
Das geschieht aber auch, wo scheinbar autonome Texte für das Theater entstehen, wie bei René Pollesch. Doch der sieht seine Textproduktion bisher so eng an seine eigene Theaterpraxis gebunden, dass er sie bisher nicht zum "nachspielen" an andere Regisseure frei gibt.
Die bemerkenswerteste Dekonstruktion des Theatertextes war während F.I.N.D. in einem Saal der Schaubühne in Berlin zu erleben. Der Franzose Michel Didym beauftragte 20 internationale Autoren - von Robert Bayer, Rainald Goetz über John Fosse, Thomas Jonik bis Jean Paul Wenzel - kurze Fünfminutenmonologe für 20 Schauspieler zu schreiben. 20 Zuschauer saßen in einem Saal dann in Divan / Die Couch jeweils einem Darsteller auf dem Kanapee platziert gegenüber. Unversehens sah man sich in der Rolle des Analysten wieder, der im steten Wechsel von fünf Minuten ein neu ausagiertes Schicksal zu deuten bekam. Als ob sich die Stimmen wie in einem Bienenstock überlagerten, rauschten die ausagierten Texte ausladend an einem vorüber. Michel Didym war damit in der Schaubühne ein kaum zu wiederholender Abend gelungen, in dem sich die Texte und Autoren in einen beängstigenden und schwebenden Neurosenreigen aufhoben. Da war es für einen Moment, das zeitgenössische Theater!
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