Im Netz gefangen

Coronakrise Was vermag die Kunst, wenn die Künstler zu Hause bleiben müssen? Einiges wirkt mau, aber nicht alles
Ausgabe 18/2020

Das Publikum kann nicht kommen, die Öffentlichkeit fehlt – was also macht die Kunst in Corona-Zeiten? Im besten Fall nutzt sie den Shutdown zur Besinnung, zur schöpferischen Anstrengung. Künstlerisches Schaffen entsteht nicht zuerst für einen Betrachter oder Zuschauer, sondern aus einer inneren Notwendigkeit und Leidenschaft heraus. Kunst darf als Hingabe, als ein emanzipatorischer Akt verstanden werden, der nicht danach fragt, was das Publikum sagt, die Öffentlichkeit meint, woher das Geld kommt. Wenn nun Künstlerinnen und Künstler vorerst nichts sagen, nichts kundtun, muss das also nicht beunruhigen (beunruhigen muss allerdings, wie es um die wirtschaftliche Existenz der Kunstschaffenden bestellt ist). Öffentlichkeit heißt in Corona-Zeiten jedoch: digitale Öffentlichkeit. Jeder konkurriert automatisch mit flotten Clips der Werbeindustrie in Social-Media-Feeds, die Social Distancing propagieren, um im gleichen Atemzug für einen Paketdienst Reklame zu machen.

Bild und Ton vom Feinsten

Da hat die „Kunst-Kunst“ erst mal nicht viel zu melden. Oder doch? Landauf, landab stellt jedes Theater, jedes Opernhaus Aufzeichnungen seiner Aufführungen ins Netz, Museen und Galerien veranstalten Video-Rundgänge durch ihre verlassenen Ausstellungen, streamen Live-Schaltungen aus Ateliers und Wohnzimmern ihrer Künstler. Der verwackelte Home-Office-Pausenfüller mit Einblick in Gästetoilette (Schaubühne) oder Makramee-Gehänge im Schlafzimmer (radio FM4) steht neben digitalen HD-Produkten der Kulturindustrie wie zum Beispiel der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker. Dieser Anbieter ist schon länger am Start. Er bietet in einem Konzertarchiv Bild und Ton vom Feinsten, zu Corona-Zeiten gratis.

Die Philharmoniker bedienen das digitale Medium auf höchstem Niveau, allerdings mit der Konsequenz, dass sich der Konzertauftritt vor Live-Publikum im Grunde abschafft. Der Sound ist nicht mehr vom Sitzplatz abhängig, der Huster vom Tonmeister aus der Aufnahme geschnitten und die schöne Hornistin erscheint in Nahaufnahme. Dabei gilt für jedes Konzert, jede Aufführung, jede Performance, jedes Theater und auch für jedes Werk der bildenden Kunst, dass es erst als Gemeinschaftserlebnis, auch wenn es ganz „für sich ist“, zu sich selbst kommt. Das Internet sorgt dagegen zuerst für Vereinzelung und narzisstischen Privatismus. Darauf reflektiert auch ein Großteil der Live-Streams der Theater, wie das Corona-Passionsspiel, das etwas versteckt auf der Homepage des Schauspielhauses Zürich zu finden ist. Die Vision des Initiators Nicolas Stemann besteht darin, ein Passionsspiel auf Kiel zu legen, das post-Corona auf die Bühnenbretter kommen könnte. Der Internet-User darf an der Entstehung eines Theaterereignisses ab ovo teilhaben. Gelingt der Übergang?

Um den Übergang brauchte sich das partizipatorische Format des Social Muscle Club in Berlin und Basel keine Sorgen zu machen. Angeregt durch Initiativen britischer Arbeitervereine um 1900 hatte man zuerst in Berlin vor einigen Jahren ein Setting entwickelt, in dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in lockerer Atmosphäre in moderierten Runden Wünsche äußern und Wünsche erfüllen konnten. Man wollte sich „im globalen Dorf gegenseitig unterstützen“, in „einer Gesellschaft, in der man sich als Einzelner oft überfordert fühlt“. Ende März ging die Veranstaltung, bisher einmalig, von Basel aus über eine Zoom-Konferenz für knapp 100 Menschen online. So simpel das Prinzip, so überzeugend und nachhaltig die Split-Screen-Zusammenkunft, die über das Private und das Geschäft hinaus für einige Stunden eine Gemeinschaft stiftete.

Der Hiatus zwischen analoger und digitaler Ordnung ist groß, wie ein anrührender Versuch, ihn zu thematisieren und zu schließen, zeigt. Als erster Beitrag einer Online-Reihe des Berliner Ensembles, Stimmen aus einem leeren Theater, trägt der 1955 in Heinsberg (!) geborene Schauspieler Wolfgang Michael auf der leeren Bühne einen Text des Autors Roland Schimmelpfennig vor. Er erzählt vor allem von der misslichen sozialen Lage seiner Theater-Kollegen – trocken, unsentimental. Er hinterlässt eine Ahnung von der ökonomischen und kulturellen Verarmung, die uns postpandemisch droht. Doch, so eindringlich die Botschaft gemeint und inszeniert ist, sie erreicht ihr Publikum mit einem Auftritt, der der medialen Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts abgelauscht ist, im 21. kaum.

Ein Ausweg läge in der Besinnung auf das künstlerische Kerngeschäft. Der kanadisch-libanesische Autor und Theaterleiter Wajdi Mouawad beschwört auf der Website seines Hauses Théâtre national de la Colline in Paris eine Gemeinschaft, die ganz auf die Sprache setzt – ein basales Element des Theaters. Statt Bewegtbild bietet er ein poetisches „journal de confinement“, ein Tagebuch aus der Gefangenschaft (er wohnt in einem Vorort von Paris), eingelesen und als Audiofile abrufbar. Mouawad erinnert sich auch an seine Jugend, an den Krieg im Libanon. Sein Haus bietet Telefongespräche mit Ensemble-Mitgliedern und Mitarbeitern an, eine Einladung, sich auf die Magie einer Begegnung über die Unmittelbarkeit der Stimme einzulassen.

Absurderweise fehlt der bildenden Kunst im Netz gerade diese Unmittelbarkeit. Kein Video-Zoom kann den Gang durch ein Museum, ein Atelier oder eine Galerie ersetzen. Die Textur eines Ölbilds, einer Zeichnung kann auf der digitalen Oberfläche nicht wiedergegeben werden, ganz zu schweigen davon, dass ihre Reproduktionen in der Netz-Bilderflut untergehen (lustiger und geradezu faszinierend sind da die Social-Media-Challenges, bei denen alte Meisterwerke nachgestellt werden). Selbst Video-Arbeiten wirken ohne den Kontext einer Aufführungssituation blutleer und stumpf.

Und doch gibt es Glücksfälle. Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn geht einen Tag nach der Schließung seiner Ausstellung Eternal Ruins mit der Mobilfunkkamera durch die Galerieräume, erklärt seine „Chat-Poster“, wie er sie nennt. Dadurch, dass sie wie ein Handydisplay mit Bild- und Textblasen aufgebaut sind, finden sie eine Analogie im Video-Bildausschnitt seiner improvisierten Führung. Im medialen Setting tritt eine Unmittelbarkeit ein, eine Gemeinschaft zwischen User, Künstler, den Bildern und der Philosophie Simone Weils.

Seit 17 Jahren veranstalten die Schweizerischen Kunsthochschulen das ACT Performance Festival. Es findet nun erstmals nur online statt. Auch das Festival Performance Now in Graz muss umstellen. Es firmiert jetzt als „Performance Homework“. Die 20 KünstlerInnen liefern dort Ideen zum Nachmachen – sie überfordern jeden User und zeigen auf charmante Weise: Wir können ohne euch, aber ihr nicht ohne uns.

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