Klicks, Pics und Likes

57. Biennale „Du darfst dein Leben ändern“, versprach in diesem Jahr die Kunstschau in Venedig. Weniger gefragt war der kritische Blick
Ausgabe 20/2017
Versprengte Satelliten der Schau finden sich überall in der Stadt. Dieser hier stammt von Carole A. Feuerman
Versprengte Satelliten der Schau finden sich überall in der Stadt. Dieser hier stammt von Carole A. Feuerman

Foto: Marco Secchi/Getty Images

Kunstbiennale Venedig zum 57. Mal. Wir erinnern uns: 2017 ist Superkunstjahr. Allein drei regelmäßige Großveranstaltungen von Weltrang öffnen im ersten Halbjahr. Eine davon gleich zweimal: Die Documenta, alle fünf Jahre ausgetragen, in Athen und Kassel. Dann die Biennale Arte Venedig, die wie der Name bereits sagt, alle zwei Jahre am Start ist, und schließlich die Skulptur Projekte Münster, die alle zehn Jahre wiederkehren. Entsprechend hoch ist die Nervosität in der Künstler-Kuratoren-Artdealer-Journalisten-Community. In Venedig wurde die Spannung noch zusätzlich gesteigert, als in Athen die hochgesteckten Erwartungen an die documenta 14 enttäuscht wurden. Deren Kurator verzichtete zwar auf Künstler, die sich im hart umkämpften Feld teurer Marktkunst bewegen. Doch nur sehr wenige der 160 Geladenen konnten mit starken Arbeiten überzeugen, die obendrein noch den politischen Auftrag erfüllten.

Wenn jetzt für die älteste und wichtigste Leistungsschau der zeitgenössischen Kunst von der künstlerischen Leiterin Christine Macel der Leitspruch „Viva Arte Viva“– es lebe die Kunst, sie lebe! – ausgegeben wird, erscheint der altbackene Ruf für viele als das notwendige Wendekommando, das die zeitgenössische Kunst zwischen Skylla und Charybdis, Markt und Agitprop hindurchzusteuern wagt.

Ist ihr das gelungen? Hat sie das Versprechen eingelöst? Oder mit der Freitagabend-Abendessen-Frage gefragt: Muss ich da jetzt hinfahren? Die Antwort kann kurz ausfallen: Ja, man muss! Allein schon wegen der Vaporettos, Palladios Erlöserkirche und Carpaccios St.-Georg-Zyklus in der Scuola degli Schiavoni. Und man weiß ja, die Hauptausstellung in den Giardini und im Arsenale wird von vielen Satelliten umkreist, darunter stets auch neue Länderpavillons. Da lässt sich immer etwas Großartiges entdecken. Etwas, das man nie vergisst und garantiert nur hier zu sehen bekommt. Es mag so viel Fragwürdiges versammelt sein wie will.

Kostproben gefällig? Da ist zum Beispiel der britische Pavillon, wie immer in einem Kuppeltempel aus dem 19. Jahrhundert untergebracht – die große Achse im Park geradeaus hoch. Die große Dame der britischen Bildhauerei, Phyllida Barlow, hat ihn unter dem Titel Folly mit wild bemalten Bauholz-Pappmaché-Objekten bis unter die Decke ausstaffiert und vor die Fassade gewaltige Kugeln auf Stangen gesteckt, damit das strenge Gefüge des Hauses einen weiteren Konterpart erfährt. Das ist mit so viel Sinn für den Raum, fürs Spiel von Form und Farbe gestaltet, dass man ihr sofort den ersten Preis, einen Goldenen Löwen, für den schönsten Pavillon gegönnt hätte.

Artistenzoo mit Tiefenpeilung

Hat den der deutsche Pavillon tatsächlich verdient? Ja, sicher. Der Kuratorin Susanne Pfeffer ist ein Coup gelungen und man hat ihr und Anne Imhofs Installation Faust die Türe eingerannt, was in Venedig ohne Schlangestehen nicht geht: Sie ist Teil des analogen Hypes um Klicks und Likes auf Twitter und Instagram. Anne Imhof trifft mit ihren sediert wirkenden Akteurinnen in Slow Motion den Zeitgeist. Sie produziert mit ihren clean-reduzierten Arrangements eine Atmosphäre von Bedrohung und Ausgeliefertsein: Das Publikum bewegt sich auf einem in den Pavillon eingezogenen gläsernen Boden, beobachtet die verloren wirkenden Gestalten im Liegen, Sitzen, Kriechen unter sich und lauscht den ab und an in den Seitenräumen angeschlagenen Gitarrenriffs. Irgendwann werden alle tranceartig eins, die Zuschauer, die Akteure, Hunde, zwei Dobermann-Junge tollen in einem eigens angebauten Außengehege. Artistenzoo mit Tiefenpeilung. Imhofs lebende Bilder inszenieren die Synthese aus nach wie vor getrennt verhandelten Gattungen und Genres – der Performance, der Installation, dem Tableau vivant – auf hohem Niveau.

Das findet man auch an anderen Orten, der Schweiz zum Beispiel. Sie hat ihren eigenen Pavillon in den Giardini, 1952 von Bruno Giacometti, Architekt und kleiner Bruder des berühmten Bildhauers, errichtet. Der hat sich zeitlebens geweigert, das Heimatland Schweiz zu vertreten. Women of Venice heißt daher die wunderbare Doppelausstellung der Bildhauerin Carol Bove mit sperrigen Stahlskulpturen und einer Video-Doppelprojektion der Schweiz-Amerikaner Teresa Hubbard und Alexander Birchler. Sie rekonstruieren in einer Doku-Fiction das Leben von Alberto Giacomettis früher Liebe, der schließlich gescheiterten Künstlerin Flora Mayo. Gespielt wird diese von der deutschen Popliteratin Julia Zange mit dem dergestalt abwesend anwesenden Alberto.

Gewaltig, schön, klug, aber auch bedrückend war die begehbare Soundinstallation auf einer Holztribüne von Cevdet Erek im türkischen Pavillon, der in einem ehemaligen Munitionslager des Arsenale untergekommen ist. Südafrika gleich daneben, der Irak gegenüber der Accademia in der Stadt, Dänemark, Polen, und, und, und. Die Liste schöner und beeindruckender Länderbeiträge, die meisten gesellschaftspolitisch auf Höhe der Zeit, ließe sich problemlos fortsetzen. Zwar gilt die Nationalstaatsdarstellung als obsolet. Doch mit 85 Ländern sind 2017 so viele vertreten wie noch nie.

Und die Hauptausstellung im großen Pavillon der Giardini und im Arsenale, der einstigen Werft der Seerepublik? Mit 120 Künstlern, davon 103 bisher in Venedig noch nie vertreten, findet auch hier ein Überforderungsprogramm statt. „Viva Arte Viva“ versucht daher sein Anliegen, dem klandestinen Wesen des künstlerischen Schaffens näher zu kommen, in neun Abteilungen zu vermitteln, vom Pavilion of Artists and Books über den der Shamans bis hin zum Dionysian Pavilion und den Colors. Der aufmerksame Besucher merkt es rasch. Es geht dabei vor allem um performative Kunst, Partizipation und Transformation, frei nach dem Motto Rainer Maria Rilkes: „Du darfst dein Leben ändern“.

Den goldenen Löwen als bester Künstler erhielt Franz Erhard Walther. Ging es ihm bei seinen immer noch aktuell und frisch wirkenden Wandformationen aus Stoff zuerst um die konzeptuelle Erweiterung der Skulptur aus der Teilhabe, um „Handlung als Werkform“, und nicht um Mitmachkunst, so tönt es nun bei den Jüngeren von überall her: Meet your artist. Get involved!

So lädt gleich zu Beginn Ólafur Elíasson an lange Arbeitstische, an denen das Publikum mit Flüchtlingen im Green light – An artistic workshop hübsche Ampeln herstellen und gegen eine Spende erwerben kann. Sind wir hier bei einer Völkerschau angelangt, oder handelt es sich um gelungene beiderseitige Inklusion?

Ein garantierter Hit

Vergleichbaren ambivalenten Situationen wird man häufig ausgesetzt. Wird der Künstler als Schamane, der an seinen Narrativen webt, beschworen, mutiert das Publikum zu einem Schwarm Neophyten, der sich willig für das Gute, Wahre, Schöne einspannen lässt. Entsprechend viel wird in diesem Jahr mit Stoffen, Nadel, Faden und Garnen gearbeitet. Der Besucher näht dabei häufig nach Konzepten der 1960er und 1970er Jahre wie bei dem 1938 geborenen philippinischen Künstler David Medalla oder sitzt in Geburtshöhlen wie bei dem Brasilianer Ernesto Neto oder möchte sich gleich in die bunte Wand aus überdimensionierten Wollknäueln der Amerikanerin Sheila Hicks kuscheln, die die lange Achse des Arsenale-Venue abschließt.

Das ist alles gut gemacht und angenehm präsentiert. Und ohnehin geht es bei der Biennale längst nicht mehr um kritische Reflexion der Kunst. Schon die Documenta-Leitung hatte für Athen die Losung ausgegeben, man nähere sich ihrer Kunst am besten ohne Vorwissen, ungebildet und vorurteilsfrei. Die Venedig-Biennale setzt dem noch einen obendrauf, indem sie die Berichterstattung bis zur Unmöglichkeit erschwert. Bereits der erste Pressetag war so überlaufen, dass man stundenlang vor den Pavillons stand. Was zählt, ist nicht der kritische Bericht, sondern der Twitterfeed mit Selfie aus der Warteschlange. Kulturjournalismus würde da nur stören.

Er stört auch bei den beiden Groß-Kunst-Veranstaltungen am Canale Grande. Zur Biennale-Zeit fischen die Modehäuser Prada und Louis Vuitton das Publikum in zwei gegenüberliegenden Palazzi ab: Während bei Vuitton Damien Hirst gefakte Unterwasserfunde wie zu erwarten monumental kostbar präsentiert, kuratiert der Direktor der Berliner Nationalgalerie die deutschen Bild-Text-Meister Alexander Kluge und Thomas Demand in einem begehbaren Bühnenbild der Marthaler-Szenografin Anna Viebrock. Ein garantierter Hit, der ahnen lässt, wie es in der Volksbühne nach Castorf weitergehen könnte. Auch hier steht dem staunenden Publikum der Mund nur offen. Kritische Reflexion ist unerwünscht. Oder wie es in einem Wäscheladen in der Via Garibaldi zwischen den Giardini und dem Arsenale hieß: „Don’t criticize, just celebrate.“

Info

57. Biennale Arte Venedig, bis 26. November

€ 4,95 statt € 14,00 pro Monat

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