Korrigieren und festhalten

Vom Tränensee zu Tränenmeeren Ein umfangreiches Künstlerbuch versammelt die Interviews des 1998 verstorbenen Dieter Roth

Der Leser des Reklameblatts Luzerner Stadtanzeiger konnte bei seiner aufmerksamen Morgenlektüre auf einen der Sätze wie diesen stoßen: "Der Bewohner des Wissens ist ein Wurstendbinder"

Ja, der Blumenbinder, die Entbindung, das Wurstende; - alles schon mal gehört, darunter lässt sich etwas vorstellen. Aber - so mochte der Leser sich weiter fragen - was ist ein Wurstendbinder? Und ein Bewohner des Wissens, von wem und wie sollte sich das Wissen bewohnen lassen, zumal von einem Wurstendbinder?

Das Wort, vielleicht nur dem Reim geschuldet, war in die Welt gesetzt und rief eine beunruhigende zweite Welt hervor: Wäre etwa der Wurstendbinder durch akademische Grade geadelt im Wissen heimisch? Entbindet am Ende das Wissen die Wurst? Geht es hier um die Wurst, das heißt ums Ganze?

Seit dem Frühjahr 1971 hatte der damals nur wenigen als Quergeist der Kunstszene bekannte Dieter Roth unter dem Kürzel D. R. Sentenzen und Aussprüche zwischen Heirats- und Haushaltsannoncen aufgegeben - bis diese Intervention in die heile Ordnung kleinbürgerlicher Existenzen aufgrund von Leserprotesten eingestellt werden musste.

Unter dem Titel Tränensee band Dieter Roth zwei Jahre später die Zeitungen in 150 Exemplaren zusammen; heute betrachtet, ein anrührendes Archiv zur Alltagsgeschichte. Der künstlerische Eingriff der Sentenzen ragt darin wie Inseln aus den Annoncen, deren Sinn längst abhanden kam. Roth verschaffte damit seinen Aussprüchen einen neuen Bezug und damit eine eigene Realität: In fünf bis 1978 folgenden, nun als Tränenmeer betitelten Bänden, erscheinen die Sätze durch Zeichnungen und neue Texte Roths emblematisch ergänzt, wodurch von Buch zu Buch ein gänzlich neuer Vorstellungsraum entstand.

Transformationen sind bezeichnend für das oft über Jahre währende künstlerische Verfahren Roths, das Abgelegtes oder Gefundenes wieder aufnahm, um es in neue Kontexte zu stellen. Materialien, Gegenstände, Sätze, Texte und Bilder konstituieren neue Bedeutungen. Dieter Roth schuf als Bildender Künstler, Zeichner, Musiker und Dichter Arbeiten, die die Bodenlosigkeit der Welt der Dinge sichtbar werden lassen. Indem sie das Ephemere dem Vergessen entreißen, steht ihnen jedoch stets ein memento mori eingeschrieben.

Als Grenzgänger der sensiblen, verwundbaren und darum oft rabiaten und kompromisslos schroffen Art, jedoch weit davon entfernt, nur der "agent provokateur" und Zertrümmerer einer modernistischen Kunstauffassung zu sein, lässt er sich nun in dem von Barbara Wien herausgegebenen Band, mit Gesammelten Interviews entdecken. Das Buch trägt 36 Gespräche des 1930 in Hannover geborenen Deutschschweizers aus drei Jahrzehnten zusammen. Das Projekt, in dem er sich wie durch seine zu Beginn der 80er Jahre begonnenen Tagebücher vom Druck der manisch besessenen Arbeit zu entlasten suchte, geht bereits auf das Jahr 1978 zurück.

Im Gegensatz zu den Interviews Serge Stauffers mit Marcel Duchamp und den Gesprächen David Sylversters mit Francis Bacon sieht Roth das unmittelbare Gespräch als eine eigenständige künstlerische Form. Unmissverständlich teilte er bereits 1973 dem Direktor der BBC in London mit: "Now I think of this talk as a work of art an would be sad to see it partly destroyed."

Die zwischen 1984 und 1985 in elf Folgen in der Kunstzeitschrift Tell erschienenen Fortsetzungsinterviews mit Dieter Schwarz werden daher von Barbara Wien wie die mit Fotos oder Marginalien versehenen schriftlichen Frage-Antworttexte faksimiliert wiederveröffentlicht. Roth bestand darauf, dass die Interviews wörtlich, ungefiltert ohne redaktionellen Eingriff in der Sprache der geführten Interviews deutsch, englisch, und schweizerdeutsch transkribiert würden.

So wird auch in den Interviews das Flüchtige festgehalten und entdeckt: Eine Kellnerin nimmt die Bestellung auf, die Tücken des Tonbandgeräts führen zu produktiven Missverständnissen, ein Telefonanruf unterbricht das Interview und ein Alltagsgespräch bekommt die Qualität konkreter Poesie:

"Hallo. Hallo, Doro.
Ja, so. So, so. Und dir?
Ja. Also heute Nacht, meine ich.
Ja, ja. Und dir?
Ja.
Ja.
Ja. Das musst du regelmäßig nehmen.
Ja.
Ich bin gerade mit Dieter Schwarz, er sitzt mir gegenüber, und wir machen dieses, sozusagen, Erlösungs- und Abschiedsinterview. Ach, das macht doch nichts."


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