Marabuh

Auf der Bühne Ronald Schimmelpfennigs "Im Reich der Tiere" am DT Berlin

In seiner Antrittsvorlesung an der HdK-Berlin hob Einar Schleef Ende des vergangenen Jahrtausends eine besondere Schieflage des europäischen Theaters hervor: das eklatante Missverhältnis der Geschlechter. Während an deutschen Schauspielschulen über sechzig Prozent Frauen ausgebildet würden, entfielen im klassischen wie modernen Repertoire lediglich ein Drittel der Rollen auf weibliche Figuren. Die Chance, besetzt zu werden, sinkt dazu rapide, sobald die magischen 30 überschritten sind. Daran hat sich, wenn man die Statistiken der Künstlersozialkasse, der KSK, ansieht, bis heute nichts geändert. Im Gegenteil. Denn neben diesem Gefälle zeigt sich ein zweites beim Einkommen. Liegen Schauspieler und Schauspielerinnen bei niedrigen Einstiegsgehältern von knapp 1.500 Euro brutto noch gleichauf, tut sich mit den Jahren eine empfindliche Gehaltsdifferenz von über zwanzig Prozent auf.

Als einer der wenigen, die das Problem nicht nur erkannt haben, sondern auch angehen, veröffentlichte René Pollesch in seiner letzten Praterproduktion an der Berliner Volksbühne nicht nur die Höhe der Gagen und Produktionskosten, die er groß auf Kostüme und Requisiten klebte, sondern besetzte den Abend Tod eines Praktikanten ausschließlich mit Frauen. Solcherlei Engagement könnte man vom Deutschen Theater auch erwarten. Aber man darf es nicht. Auch dann nicht, wenn das Haus in seiner ersten Saisonproduktion, der Uraufführung von Ronald Schimmelpfennigs neuem Stück Das Reich der Tiere, nach der sozialen Situation des Bühnenschauspielers im Allgemeinen und Besonderen fragt.

Schauen wir dazu gleich ins Schlussbild des vergangenen Samstagabends. Mit Pause sind gut drei Stunden vergangen. Man sieht ein letztes Mal in den kammerspielkleinen, fenster- und türlosen White-Cube von Johannes Schütz. Man wartet. Schließlich kommt von links ein Darsteller als Riesen-Toast verkleidet, von rechts einer als Pfeffermühle, wieder von links einer als Spiegelei und zum Schluss einer als Ketchupflasche. Kurze Pantomime und Schwarz. Ende, Applaus. Das sah lustig aus, und auch wenn nicht wie bei Pollesch die Herstellungskosten der lustigen Kostüme veröffentlicht wurden, so stellte sich in dem Tableau doch wenigstens kurzzeitig die Illusion einer geschlechtsindifferenten Egalität der Darsteller her. Diese emanzipatorische Botschaft war nicht beabsichtigt. Denn der Abend war von Anfang an nach der KSK-Statistik besetzt: zwei Damen, vier Herren. So sehr man sich systemkritisch gab, am eigenen System wollte man offensichtlich nicht drehen.

Selbst wenn man von dieser Besetzungspanne absieht, geriet Schimmelpfennigs Textvorlage ähnlich dünn, wie seine Milieustudie Auf der Greifswalder Straße, die ebenfalls von Jürgen Gosch inszeniert, 2006 auf die Bretter des Deutschen Theaters kam (Freitag 06/05). Im Reich der Tiere nimmt sich die zahlreichen us-amerikanischen Backstage-Komödien und Musical-Produktionen wie Der König der Löwen als Folie und erzählt die Geschichte des schauspielernden Personals irgendeines Unterhaltungsbetriebs vor der Abwicklung. Offstage-Situationen wechseln mit Onstage-Spielszenen, die das Leben hinter der Bühne spiegeln sollen: Da die Produktion Im Reich der Tiere nach sechs Jahren abgespielt ist, machen sich nun die fünf Darsteller Sorgen um Weiterbeschäftigung und Zukunft, brechen Konkurrenzkämpfe und Machtspiele aus. Einem, Frankie, gelingt der Absprung mit einem Werbefilm. (Dass man seinen Produzenten wie den Theaterautor Falk Richter aussehen lässt, gehört zu den Peinlichkeiten der Regie.) Die anderen Kollegen landen in der Folgeproduktion - das Zeichen ihres Abstiegs - als Toast-, Pfeffermühlen-, Spiegelei- und Ketchupflaschendarsteller.

Schimmelpfennig will zwar zeigen, wie sozialer und ökonomischer Druck zu Entsolidarisierung, Egoismus und Machtkämpfen führt, doch weder ihm noch seinem Regisseur gelingt es, einen Übergang von der realen Ebene zur Ebene der Fabel zu schaffen. Dort wetteifern Löwe, Zebra und Marabu - natürlich die Männer - um die Krone. Witzig ist das nur bedingt, trägt es doch zur Analyse wenig bei. Einzig den großartigen Darstellern ist es zu verdanken, dass der Abend einen echten Schauwert besitzt: Ernst Stötzner, wie die anderen den Abend über plakafarbenbemalt und mit Löwenmähne ausgestattet, Falk Rockstroh als Zebra, Kathrin Wehlisch als Katze, Dörte Lyssewski als Antilope. Und Wolfgang Michael gibt den Marabu so marabumäßig, als habe er den Marabu monatelang im Tiergarten studiert. Ohne das Schimmelpfennig-Gosch-Drumherum wäre das wundervoll gewesen: Das DT als Tierschauspielerzooperformancebox.


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