Minute vierzig. Hoch oben auf seinem Podest steht Hans Hübner, Jahrgang 1939, leger im Jackett, das graue Haar nach hinten gekämmt: Der ehemalige Afrikakorrespondent der ARD und Mitarbeiter des Westdeutschen Rundfunk deklamiert ruhig und unpathetisch den Botenbericht von der Niederlage Xerxes aus Aischylos´ Die Perser. "Weh mir, wie leidvoll, erster Bote sein des Leids!/ Gleichwohl tut´s Not, ganz zu enthüllen, was uns traf", sagt er, und die acht Kollegen von Hans Hübner erwidern mit dem Rücken zum Publikum die Betroffenheit des Perservolks im Chor. Währenddessen hat sich der Autor Walter van Rossum - der auch für den Freitag schreibt - auf den Kopf gestellt. Beine oben verkündet er, dass ein Perspektivwechsel beim Begreifen der Tagesschau ganz enorm helfe. Lacher. Da hatte Walter van Rossum, durch medienkritische Sachbücher zu Tagesschau und Sabine Christiansen hervorgetreten, bereits die Sympathie des Publikums für sich gewonnen. Kernsatz: "Ich frage mich, was wollen wir von der Welt nicht verstehen, wenn wir die Tagesschau sehen."
Klar, wir sitzen nicht vor dem Fernseher sondern im Theater. Da kommt so ein Statement immer gut. Nun saßen wir zwar im Theater, dem Berliner Hebbel am Ufer an der Möckernbrücke. Aber wir saßen in einer Uraufführung des Theaterkollektivs Rimini Protokoll. Die Truppe von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel feierte Erfolge wie Wallenstein. Eine dokumentarische Inszenierung, 2006 zum Theatertreffen eingeladen, Cargo Sofia. Eine europäische LastKraftWagen-Fahrt oder Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, im vergangenen Jahr zweifach ausgezeichnet bei den Mühlheimer Theatertagen. Da sah man sich von der neusten Produktion von Helgard Haug und Daniel Wetzel enttäuscht. Denn inhaltlich - man müsste jetzt sagen, vom Content her - blieb es in Breaking News - Ein Tageschauspiel bei der Einsicht, dass hinter den Meldungen auch Menschen stehen und dass es da eine Differenz zwischen dem Rauschen der Medien und dem antiken Boten gibt. Auch auf der formal-ästhetischen Ebene blieb nur eins - das allerdings analog zum Thema Fernsehen: einschlafen und abschalten.
Theater ist weder Fernsehen noch bildende Kunst und auch nicht Performance. Doch in letzterer richtet sich der Abend ein. Zu Beginn ist die Sicht auf die Bühne versperrt: Neun übermannshohe, bewegliche Stellwände zeigen die triste, serielle Fassade des Berliner "Sozialpalast" an der Schöneberger Pallasstraße mit seinen aberhundert Satellitenschüsseln an den Balkonen. Nach und nach treten die neun Selbst-Darsteller vor die Wände und stellen sich vor. Sie werden den Abend auf der Bühne bestreiten, keine Schauspieler, sondern - im Jargon von Rimini - "Experten des Alltags", die dem Thema gemäß gecastet wurden und nach Interviews und Gesprächen "ihre" Texte und Handlungsanweisungen für die Bühne bekamen. So entsteht ein wiederholbares Set, in dem der Darsteller seiner selbst im virtuellen Rahmen des Theaters Authentizität und Glaubwürdigkeit bewart. Auch wenn er im eigenen Namen agiert, legitimiert die Verschiebung der Realitätsebenen, das Medium sein Agieren und Reden. Alle Akteure nennen zu Anfang zwar ihren Namen, erzählen über ihren Werdegang und geben das ein oder andere Private preis, aber behaupten zugleich, dass sie in der Pallasstraße 6 wohnen. Das Prinzip hat Rimini Protokoll hinlänglich und mit Erfolg erprobt.
Zwar sind die Selbst-Darsteller irgendwie Leute wie du und ich - doch Rimini Protokoll ist in diesen Formaten weit davon entfernt, den Zuschauer zum Beteiligten werden zu lassen. Die vierte Wand zwischen Bühne und Parkett bleibt unangetastet. Die Arbeit von Rimini Protokoll lebt nicht wie oft insinuiert von der Zertrümmerung traditioneller Theaterformen, sondern dadurch, dass performative Formate der Alltags- und Medienwelt, insbesondere des Fernsehens in die "künstliche" Welt der Bühne gezogen werden. Doch dazu bedarf es nicht nur der konstitutiven Momente Rolle und Aufführung, das heißt der Wiederholung des performativen Aktes, sondern eines dramatischen Konfliktes. Es bedarf - wie bei der Wallenstein-Inszenierung 2006 - eines übergeordneten erzählerischen Rahmens in dem einzelne Akteure in ein Spannungsverhältnis gesetzt werden und handeln. Erst in dieser aus den "Jedermann-Biografien" abgeleiteten Konfrontation werden die Selbst-Darsteller zu Protagonisten, haben sie etwas zu sagen, das auf der Bühne über ihr individuelles So-Sein hinaus Interesse bekommt. Bloß mit einer Sache befasst sein, "Alltags-Experte" zu sein, reicht auf dem Theater nicht aus.
Die Interaktion bei Breaking News beschränkte sich weitgehend im Zuruf: "Das war´s, schalten wir zu Martina." Hier agieren eben Medienprofis, die allerdings zu wenig Distanz zu ihrer Sache haben, um das Ganze zu einer medienkritischen Lecture-Performance zu machen.
Eine Alternative wäre gewesen, sich stärker auf Aischylos´ Die Perser einzulassen. Hier bot man Referenzhäppchen. Dabei hätte man nicht nur die Differenz zwischen der erschütternden Kunde und der heutigen Nachrichtenflut ausloten, sondern auch den eigenen Status, die eigene Rolle in einem weiteren Rahmen ausagieren können.
Nachdem sich die Russischdolmetscherin Martina Englert ("Ich habe keine Schüssel auf dem Balkon"), die TV-Cutterin Marion Mahnecke ("mache Close-Ups zur Intro"), der kurdische Psychologe Djengizkhan Hasso ("eine Schüssel") sowie die anderen vorgestellt haben, werden die Stellwände zur Seite geschoben. Eine gewaltige Landschaft aus flimmernden TV-Monitoren erinnert an Nam June Paiks Split-Screen-Wände. Da stehen sie nun etwas verloren, zappen durch die Kanäle, übersetzen und kommentieren. Ab und an gibt es chorische Einlagen, etwa zur Fit-for-Fun-Sportgymnastik aus dem Pentagon-Chanel oder zu einem indischen Stöckchentanz auf CNN. Nach hundert Minuten ist Schluss. Alles irgendwie sympathisch, aber im Grunde nicht der Rede Wert. Dass Rimini Protokoll in Zukunft mehr zu bieten haben, zeigt ein kürzlich im Alexander Verlag Berlin erschienenes Buch. Mit einer Übersicht über die Arbeiten von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel und einer Reihe lesenswerter Texte führt es ein Potential vor, das noch lange nicht ausgeschöpft ist.
Miriam Dreysse, Florian Malzacher (Hg.): Rimini Protokoll. Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Alexander, Berlin 2007, 19,90 EUR
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