Nach Ihnen, mein Herr!

Zum Anderen Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas wäre am 12. Januar 100 Jahre alt geworden

"Philosophie ist nicht die Liebe zur
Weisheit, sondern die Weisheit der Liebe."
Emmanuel Lévinas

Als Jean Paul Sartre 1964 nach der Ablehnung des Literaturnobelpreises ein Glückwunschschreiben von Emmanuel Lévinas erhielt - der Gratulant forderte den Geehrten dazu auf, sich vermittelnd in den Nahost-Konflikt einzumischen -, soll Sartre die Umstehenden gefragt haben: "Wer ist denn eigentlich dieser Lévinas?"

Ja, wer war der Mann, der erst drei Jahre vor dieser herablassenden Bemerkung mehr zufällig und erst auf Betreiben des Freundes Jean Wahl mit seiner schwertönenden Schrift Totalité et infini. Essai sur l´extériorité sechsundfünfzigjährig eine Lehrbefugnis erhielt? Sartre hätte sich erinnern können: Er war Lévinas nicht nur in den freitäglichen Runden von Gabriel Marcel, dem Begründer des katholischen Existentialismus in der Rue de Tournon begegnet, sondern er verdankte ihm zu Beginn seiner philosophischen Karriere auch die Hinwendung zur Phänomenologie Husserls, die Anfang der 1930er Jahre wesentlich durch den jungen Lévinas nach Frankreich vermittelt worden war.

Im litauischen Kaunas, damals Teil des russischen Zarenreiches, wurde Emmanuel Lévinas als der erste dreier Söhne eines gemäßigt religiösen jüdischen Papierwarenhändlers auf einer Zeitschwelle geboren: nach dem julianischen Kalender am 30. Dezember 1905 oder nach dem gregorianischen am 12. Januar 1906. Vor dem Hintergrund einer liberalen jüdischen Buchkultur lernte Lévinas ab dem sechsten Lebensjahr hebräisch, litauisch und deutsch und las in der Muttersprache Puschkin, Lermontow, Gogol, Turgenjew, Tolstoi und Dostojewski.

Sowohl die jüdische als auch die russische Tradition fanden in den Arbeiten Lévinas´ ihren Niederschlag. Der gläubige, dem Ritus und der Schrift Verpflichtete brachte 1968 im kleinen Kreis erarbeitete Talmud-Lesungen heraus, die Frucht einer bemerkenswerten Gastfreundschaft: Fünf Jahre, bis 1952, hatte Lévinas den Talmudgelehrten Mordechai Schuschani als Mentor in seiner Familie beherbergt. Dostojewskis dunkler Satz aus Die Brüder Karamasoff: "In Wahrheit bin ich für alle schuldig und vielleicht schuldiger als alle", wurde ihm zu einer immer wieder zitierten Allegorie auf den Ausgangspunkt seines Denkens. Doch ebenso wie er die Literatur nur als Propädeutik und Illustration, nicht als Instrument der Philosophie begriff, legte er Wert auf die "methodische" Trennung von Denken und Glauben, Philosophie und Religion, Profession und Konfession. Das Epitheton "jüdischer Denker" lehnte er mit Vehemenz ab.

Während seines Soziologie- und Philosophiestudiums an der Universität Straßburg in den 1920er Jahren machte ihn seine Kommilitonin Gabrielle Pfeiffer auf die Phänomenologie Edmund Husserls aufmerksam, die unter dem Schlagwort "zu den Sachen selbst" die Befreiung von einer dogmatisch verkrusteten Systematik der damals dominanten Lehren Emile Durkheims und Henri Bergsons versprach. Pfeiffer und Lévinas übersetzten gemeinsam Husserls Cartesianische Meditationen und sorgten so in Frankreich für eine frühe Rezeption des zum Katholizismus konvertierten Husserl. Lévinas Dissertation von 1931 zu Husserls Intuitionsbegriff - nach Sartres eigenem Bekunden eine "Offenbarung" - tat ihr Übriges. Zuvor war Lévinas in das 90 Kilometer entfernte Freiburg gefahren, um dort 1928/29 den bereits emeritierten Husserl in zwei Seminaren zu erleben.

Doch entscheidender wurde ihm die Begegnung mit dem gerade aus Marburg berufenen Martin Heidegger. Dessen Sein und Zeit sollte für Lévinas - neben vier weiteren - als "eines der schönsten Bücher in der Geschichte der Philosophie" genannt werden. Dass er Heidegger weder dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus noch die fehlende Schuldeinsicht nachsah, tat dem mit Lust an der Provokation gemischten Lob keinen Abbruch. "Mit Heidegger" sei die "Verbalität des Wortes ›Sein‹ wiederentdeckt worden", so Levinas, aber in den Radioansprachen Hitlers klang ihm Heidegger "immer ein bisschen nach", vor allem dadurch, "die Dinge zu bejahen und herauszuschreien."

Von wenigen Aufsätzen und zwei schmalen Schriften 1947/48 abgesehen, vergingen Jahre, bis Lévinas seine eigene Stimme erhob. Er bewarb sich 1931 erfolgreich um die französische Staatsbürgerschaft, heiratete im Jahr darauf seine Jugendliebe Raissa und arbeitete nach obligatem Militärdienst als Verwaltungsangestellter bei der Alliance Israélite in Paris. Im Rang eines Oberfeldwebels überlebte er den zweiten Weltkrieg in einem Kriegsgefangenenlager bei Fallingbostel in der Lüneburger Heide. Frau und Tochter entkamen mit Maurice Blanchots Hilfe knapp der GeStaPo, während kein einziges Mitglied der Familie in Kaunas den Holocaust überlebte. Lévinas schwor, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Den Karl-Jaspers Preis der Universität Heidelberg 1983 nahm sein Sohn für ihn entgegen.

Aus vier Vorträgen am Collège Philosophique Jean Wahls ging 1948 Lévinas´ bedeutende Schrift Le temps et l´autre hervor, die wie das zuvor publizierte Buch De l´existence à l´existant schon vom Titel her eine kritische Wendung gegen Heideggers "Sein und Zeit" betreibt. Aber zugleich will sich Lévinas gegen die existenzialistischen Strömungen im Nachkriegsparis abheben: Die Erstausgabe von L´existance à l´existant erhielt eine Banderole, auf der zu lesen war, es ginge hier nicht um "die Angst vor dem Nichts" - dem existenzialistischen Reizthema schlechthin.

Fundamentale Verunsicherung erwächst nach Lévinas weder aus dem Sein noch aus dem Nichts, weder aus dem Dasein noch aus dem Tode, sondern aus der Erfahrung des "il y a", des "es gibt", wie es von Kindern in schlaflosen Nächten erlebt wird, oder wie es von Maurice Blanchot als das unbestimmte "Rauschen" und "Murmeln" hinter der "Trennwand eines Hotelzimmers" beschrieben wurde. Das Bestimmte, das "Etwas", das "Seiende" wäre damit der in wachen Zuständen permanent gegen dieses "il y a" behauptete und erkämpfte Modus, das schlechthin Unheimliche des Seins zu fixieren und zu beherrschen. Nach Lévinas gelingt diese Beherrschung aber nicht durch der die Neuzeit kennzeichenden Setzung eines souveränen Subjekts, sondern nur in dessen Ab-setzung und in der Hinwendung zum Anderen des anderen, in der sozialen Beziehung.

Das einzige Verhältnis in der Welt, das ursprünglich nicht intentional strukturiert und keiner Verdinglichung oder Mediatisierung unterworfen ist, stellt für Lévinas diese Beziehung zum Anderen dar. Doch der Andere wird bei Lévinas nicht als der Bekannte oder Gleiche, sondern als der Fremde, der gänzlich Unbekannte gedacht. Zwischen mir und dem Anderen besteht ein Abgrund, der jede Anerkennungsdialektik unterbricht. An die Stelle dieses sozialen Modells der Anerkennung setzt Lévinas die voraussetzungs- und bedingungslose Verantwortung für den Anderen, die ich, sobald mir sein Antlitz gegenübertritt, für ihn übernehme: Aus seinem Antlitz spricht: "Du sollst nicht töten!" Vergleichbar dem Adornoschen "Nicht-Identischen" begegnet mir in diesem "Antlitz" ein Dritter, dem gegenüber ich im wörtlichen Sinne Subjekt, "subjektum", Unterworfener bin. Nicht Identität stiftet Menschlichkeit, sondern Alterität, nicht Austausch und Kommunikation, sondern die Diachronie des Handelns, die so weit geht, mit dem eigenen Tod für den Anderen einzustehen.

Wie aktuell und problematisch Lévinas´ radikale Ethik des Anderen mit Bezug auf den Dritten, die soziale Gemeinschaft und das in ihr notwendige politische Handeln ist, hat kürzlich Bernd Heiter in einem lesenswerten, von Christian Kupke herausgegebenen Sammelband zu Lévinas´ Ethik im Kontext herausgearbeitet. Ganz in diesem Sinne pointiert Lévinas gegenüber Philippe Nemo, "dass die Analyse des Antlitzes mit der Herrschaft des Anderen und seinem Elend, mit meiner Unterwerfung und meinem Reichtum primär ist. ... Sie ist Voraussetzung jeglicher menschlicher Beziehungen. Gäbe es das nicht, so würden wir nicht einmal vor einer offenen Tür sagen: ›Nach Ihnen, mein Herr!‹. Was ich versucht habe zu beschreiben, ist ein ursprüngliches ›Nach Ihnen, mein Herr!‹."


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