Schöner Laichen

Auf der Bühne Thomas Ostermeier inszeniert an der Berliner Schaubühne die Uraufführung von Marius von Mayenburgs "Eldorado"

Vom Heiligen Antonius von Padua wird erzählt, dass er sich, nachdem die Menschen nichts von ihm hören wollten, den Fischen zuwandte, die ob seiner himmlischen Redegabe die Köpfe aus dem Wasser streckten und andächtig der Predigt lauschten, was zur Folge hatte, dass sich auch die abtrünnige Gemeinde wieder um den frommen Mann scharte. Dass man zu den Fischen predigen müsse, um wieder gehört zu werden, ist heute sicher einer der Albträume des gegenwärtigen Sprechtheaters.

Wenn in der Berliner Schaubühne bürgerlich gediegenes Wohnen signalisiert werden soll, steht für gewöhnlich ein Aquarium mit japanischen Zierkarpfen auf der Bühne. Freilich kümmern sich die engagierten Kois meistens nicht um den Bühnenzauber, es sei denn, ein Schauspieler verirrt sich zu ihnen ins Wasser. Sie sorgen für den Kontrast zum Bühnengeschehen. In ihrem nassen Element bilden sie gleichsam die Folie einer unbesorgten, schwerelosen und nicht zuletzt erlösten Existenz, vor deren Hintergrund das Spiel zerkrachter bürgerlicher Existenzen um so krasser erscheint.

Zur Uraufführung von Marius von Mayenburgs Eldorado hatten die Schaubühnenfische allerdings frei. Sie durften hinter ihren Scheiben gleich links am Eingang zum Foyer ihre friedfertige Parallelwelt leben, denn in Thomas Ostermeiers Inszenierung hätten sie den Akteuren vielleicht die Schau gestohlen, wimmelte es doch in der mit achtzehn Szenen vergleichsweise straffen Textvorlage Mayenburgs nur so von kleinen und großen Fischen, Krustentieren und Metaphern, die sich um die Aquaristik drehen. Damit der Bezug nicht gleich offensichtlich wird, schickt Ostermeiers Bühnenbildner Jan Pappelbaum die Einheitsszene in den deutschen Wald. Den Zuschauer empfangen Eichenstämme, Waldessang und -klang, das Käuzchen ruft, der Specht klopft. Die Waldeinsamkeit bedient Sehnsuchtsbilder, aus denen sich bürgerliche Versöhnungsphantasien speisen. Dazu passt, dass die Wipfel der Bäume sich zu einer schnittigen cremefarbenen Platte verwachsen, als hätte man den angesagten Raumkünstler Tobias Rehberger um eine Skulptur gefragt, während der Boden romantisch mit Humus und Laub bedeckt ist.

Ungeahnt steigen aus der trauten Phantasie Ungeheuer. In den folgenden eindreiviertel Stunden werden wir Zeuge, wie beim Protagonisten Anton der Traum vom bürgerlichen Familienglück am Zynismus der Elterngeneration und der eigenen Chuzpe im Wahnsinn zerschellt. Er wird sich als Hecht im Karpfenteich versuchen, stellt sich aber bald nur als kleiner Fisch heraus, der vom großen Fisch gefressen wird. Der heißt im Stück Aschenbrenner, sein Chef. Nach dem Eingangstableau, das uns die sechs Akteure stumm präsentiert, hat Aschenbrenner seinen ersten Monolog, und da weiß man, dass der Mann auch das letzte Wort behalten muss: Dieter Mann im blauen Zweireiher lässt uns an einer ersten apokalyptischen Vision teilhaben: Ein Krieg zerstört die naheliegende Stadt - Mayenburgs Vorlage legt Berlin nahe, Ostermeiers Umsetzung will das lieber offen lassen. Aschenbrenner sieht in der Zerstörung die große Perspektive: Wiederaufbau, Investitionsmöglichkeiten, Profit - wir dürfen bei der Figur ruhig an den amerikanischen Vizepräsidenten Dick Cheney denken, einen ganz üblen Burschen. So übel, dass nach der zweiten Szene, in der sich Stephanie Eidt und Matthias Matschke als Thekla und Anton das Eheglück mit Birkenbäumchenpflanzen und Pergola ausmalten, der arme Anton von ihm genau als das bezeichnet wird, was er wohl in Wirklichkeit ist: ein "Laternenfisch". Anton hatte nämlich die Unterschrift vom Chef gefälscht. Worauf er vor die Tür gesetzt wird wie ein Fisch aufs Land, wo dieser nur noch zappelt und nach Luft schnappt.

Wenn man dem verschüchterten Matthias Matschke im schlabberigen karpfengrauen Anzug kaum den skrupellos glatten Immobilienhai abnimmt, so gelingt es ihm doch den gehetzten Arbeitslosen zu spielen, der sich hinter der Glasscheibe eines Hummer-Aquariums selbst an die Krustentiere anzupassen versteht. Sein bürgerliches Idyll finanziert er nun damit, dass er das Geld der Schwiegermutter (Ingrid Andree) veruntreut. Die hat sich den Jugendfreund ihrer Tochter (André Szymanski) zum Gespielen herangezogen und will auch am großen Chaos da draußen profitieren, indem sie den Margen Antons folgt. Das kann nicht gut gehen. Thekla schmeißt aus Frust und fürs Mutterglück in der vierten Szene das Klavierspiel hin und ihre Schülerin Manuela (Judith Engel) vor die Tür. Aschenbrenner erhängt sich irgendwann im Schrank, um fortan als Geist aufzutreten, und Anton erhängt sich ebenfalls, als die Blase zu platzen droht. Finale: Die zurückgekehrte Schülerin spielt am Flügel Schumann, während Mutter und Tochter sich noch einmal ankeifen, bis sich der erhängte Gatte in Feinrippunterwäsche als Geist zeigt. Da sich die Tochter beim Keifen gegen die Mutter ebenfalls bis auf die Feinrippwäsche entblößt hat, bleibt ein ergreifendes Schlussbild: zwei nasse Fische im gedimmten Spotlight.

Darf man da noch Mitleid haben? Nein, darf man nicht! Wo bei der Uraufführung Mayenburgs Mittelschichtschockers Das kalte Kind Luc Perceval 2002 in einer schonungslosen Vivisektion der Figuren Glaubwürdigkeit und Spannung erzeugte (Freitag 3/03), erliegt Ostermeier in seinem texttreuen Kammerspiel dem Romantizismus. Das, wovon sich alle abzustoßen versuchen, bildet den ständigen Fluchtpunkt einer Heile-Welt-Ideologie, nach der es schon Einer, nämlich der große Fisch, christologisch gesprochen der Ichthys, richten wird. Und wenn nicht, dann gehen wir, die kleinen Fische, die Pisciculi, halt unter. Die Lösungsangebote Ostermeiers und seines Hausautor kommen über diesen Horizont kaum hinaus: Das eine Lösungsangebot heißt Kunst, das andere Liebe. Aber, was soll am Ende des Stücks die erschlichene Versöhnung Theklas mit der Schülerin am Klavier und die anschließende Apotheose des gescheiterten Ehepaars, wenn Thekla den gesamten Abend über nur als ahnungsloses Heimchen gezeigt wird, das sich dem Männe unterordnet? Stephanie Eidt versucht redlich dagegen anzuspielen. Auch Ingrid Andree müht sich, Vornehmheit in die ordinäre Alte zu kriegen, was ihr aber der um viele Jahre jüngere Jugendfreund vermasselt, indem er zügig an ihr vorbeispielt und so die Konvention bestätigt.

Abhängigkeiten und Subordination aller Orten, und es gibt kein Entrinnen. Zur Analyse der gegenwärtigen Situationen und Haltungen trägt dies wenig bei. Und schlimmer noch: Es bleibt der Eindruck, dass sich im Verhältnis des kleinen Anton zum patriarchalen Aschenbrenner am Ende die Sehnsucht aller Beteiligter nach dem großen Vater, dem großen Fisch ausdrückt. Nicht umsonst hat man Aschenbrenner mit Dieter Mann besetzt, dem Grandseigneur und ehemaligen Leiter des Deutschen Theaters aus der Schumannstraße. Vielleicht besetzt man eines Tages den Moby Dick mit ihm. Derweil feilt Ostermeier an seiner Fischpredigt, und man kann weiter den Zierkarpfen im Foyer zugucken.


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