Straßenstrichmenschchen

Fleischbeschau Jürgen Gosch inszeniert die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs "Auf der Greifswalder Straße" am Deutschen Theater

Schönhauser Allee, Prenzlauer Allee, Greifswalder Straße - von den drei Ausfallstraßen, die den Berliner Bezirk Prenzlauer Berg durchschneiden, ist letztere die unwirtlichste: vierspurige Durchgangspiste, in der Mitte schüttere Bäumchen samt Straßenbahn im versifften Schotterbett entlang der Mietskasernen und des Plattenbaus hinter der Danziger, vormals Dimitroffstraße. Noch findet man dort vor allem Leerstand und Angebote zwischen Werner´s Backstube, der Knaller-Restekiste und Minh Tans Thai Food. Doch auch die Greifswalder wird langsam von den städtischen Migrationsprozessen erfasst.

Mittlerweile vermag ihr auch der westdeutsch geschulte Stadtbewohner etwas abzugewinnen. Zum Ausgleich für Lärm und holprige Toreinfahrten findet sich die nächste Espressobar und der Weinhandel gleich in der Seitenstraße. Der Volkspark Friedrichshain mit seinem Märchenbrunnen liegt um die Ecke und die skulpturale Faust Ernst Thälmanns vermittelt ihm neben den vielen echten Ostnachbarn, die hier als Sozialabsteiger vermutet werden, das Gefühl, noch am Puls der Zeit zu sein.

Wir dürfen in Roland Schimmelpfennig, 1967 in Göttingen geboren, Nachwendeberliner und mittlerweile einer der meistbeschäftigten Autoren des deutschsprachigen Theaterbetriebs, einen aufmerksamen Zeitgenossen vermuten. Bis vor kurzem hat er in der Gegend gewohnt, insgesamt sieben Jahre lang. Am vergangenen Freitag kam nun die Frucht seiner gelebten Feldforschung, das Stück Auf der Greifswalder Straße, im großen Haus des Deutschen Theaters in der Regie von Jürgen Gosch zur Uraufführung.

Das Stück hat schon begonnen, bevor es eigentlich anfängt. Das elfköpfige Ensemble hat nach dem Prinzip "Wir gehören zu Ihnen" vor dem Einlass in der ersten Reihe Platz genommen und kehrt während der zweieinhalbstündigen Vorstellung vor allem hierher zurück - "Ihr dürft jetzt ‚Du´ zu uns sagen."

Auf der Bühne herrscht Tabula Rasa, als wolle man das Theater neu erfinden. Das Theater! - darf man denken - Licht, Raum, Stimme, der Mensch! Zunächst aber Stille. Gosch, der Verweigerer, Gosch, der Verminderer: Straßengeräusche aus dem Off - eine Spezialität der Schaubühne am Lehniner Platz, von der sich Schimmelpfennig vor ein paar Jahren im Krach trennte - wird es den gesamten Abend über nicht geben.

Bevor das Publikum so richtig unruhig wird, betritt der Schauspieler Bernd Stempel (glattrasiert, Brille, Bademantel, in Hauspuschen) die Bühne. Nicht so ganz das, was wir uns unter "der Mensch!" vorgestellt hatten. Stempels Proll-Figur sucht, zunehmend aggressiv, Bienchen, den entlaufenen Hund. Der Kontrapunkt wird in der folgenden Szene gesetzt: Der schöne, nackte Männerleib von Ingo Hülsmann stemmt sich vom Parkett auf die Rampe, endlich - "der "Mensch!". Damit folgt auf das komödiantische das tragische Moment in der Aufführung. Erinnyengleich dürfen sich der Reihe nach drei schwarz gekleidete Damen auf den Schauspieler legen, um ihm Schicksal - "hüte dich vor dem langen Mädchen, der Giraffe" - und den nahen Tod in vierundzwanzig Stunden zu prophezeien.

Dazwischen geschnitten erstens: Auftritt eines Rockers (graue Zottelperücke, Bierflasche, Plastiktüte; in der Schaubühne wäre sie von Lidl, hier ist sie weiß). Zweitens: Ein lärmender Gleisbautrupp nimmt das volle Rund in Beschlag - in der Schaubühne erste Gelegenheit für ein lautes Video, hier kommt natürlich keins, dafür etwas scheppernde Mucke aus dem Transistorradio. Nach Hülsmanns Nachtmahr folgt zur Erholung noch einmal Stempels Mann im Bademantel, dann jedoch bereits die Szene 1.8., drei kreischende Girlies, die nach durchgemachter Nacht auf dem Weg nach Hause sein sollen. Auch sie sind irgendwann ihrer Kleider entledigt und sprechen ab und an einen René-Pollesch-Satz wie "Mein Körper ist mein Kapital". Eigentlich hätte man jetzt das Theater verlassen müssen.

Schimmelpfennig weiß, dass eine Eins-zu-Eins-Übersetzung der Realität ins Theater nicht zu haben ist. Die Greifswalder ist ihm daher zuerst Metapher, die mit und gegen Titel wie Berlin Alexanderplatz, Berlin - Ecke Schönhauser oder Sonnenallee über den konkreten Ort hinausweisend Aktualität und Präsenz behauptet.

Die Greifswalder ist Metapher. Aber wofür? Metapher für die schiefen sozialpolitischen Verhältnisse der Republik, fehlgesteuerten Urbanismus, postsozialistische Gentrifizbewegungen? Schimmelpfennigs Stück bleibt in dieser Frage unbestimmt. Es löst die Behauptung, mehr als eine Milieustudie zu sein, nur in Ansätzen ein. Für mehr hätte die Regie zu sorgen.

Formal verbietet sich Schimmelpfennig sowohl das Sozialdrama wie das Dokumentartheater. Stattdessen setzt er auf eine Überbietung des Theaters mit den Mitteln des filmischen Erzählens, das - so scheint es - insgeheim auch noch das Kino überbieten will. Schimmelpfennig führt in seinem neuesten Stück 40 Figuren, allesamt Mittelschichtgestalten mit hohen Abstiegschancen, in einer irrlichtenden Dramaturgie durch 63 rasant geschnittene, teils winzig kurze Szenen. Der Versuch ist, sich deren Realität von ihrer Nachtseite zu nähern, von dem, was sie träumen, hoffen, befürchten. Oder anders gesagt: Schimmelpfennig führt uns weniger auf die Greifswalder als an den nahen Friedrichshainer Märchenbrunnen: Ein Mann kann plötzlich spanische Kinderlieder singen, ein anderer sich plötzlich in eine Frau verlieben. Eine Frau verwandelt sich vom Hund gebissen in einen Wolf.

Roland Schimmelpfennigs magischer Realismus kann großen Reiz und Komik entfalten, wie vor ein vier Jahren die Uraufführung von Vor langer Zeit im Mai an der Berliner Schaubühne durch Barbara Frey gezeigt hat. Hier besaßen seine Figuren etwas Traumwandlerisches, Leichtes, und die hübsch-absurden Versatzstücke ergaben zusammengenommen Sinn: die Vorstellung von so etwas wie Erlösung vom Leiden des Lebens. Das hätte auch in der Uraufführung von Auf der Greifswalder Straße so sein können. Auch hier lassen sich alle Register vom epischen bis chorischen Theaters ziehen. Doch Schimmelpfennig und sein Regisseur wollten mehr.

Spätestens mit dem Auftritt der drei Girlies erahnt man, dass Gosch wider die Stücklogik zuerst auf Fleischbeschau und Klischee setzt. Stempels Zigarettenverkäufer Hans, dem Körper und Sprache entgleitet, der Chor der Kassiererinnen, der Beziehungsknatsch, den Ingo Hülsmann und Lotte Ohm austragen - das sind alles schöne Miniaturen, die sich gegen die spekulativ verirrte Regie behaupten. Wie sie zeigen, hätte man aus der Vorlage, wenn schon kein analytisch starkes Zeitstück, so doch zumindest eine glaubhafte Milieustudie herstellen können.

Auf der Greifswalder Straße ist neben einer Produktion in den Kammerspielen die einzige Inszenierung eines Gegenwartsautors, die sich das Deutsche Theater unter seinem Intendanten Bernd Wilms in dieser Saison leistet. Es steht zu befürchten, dass sie vom Publikum insgeheim vor allem darum so gnädig aufgenommen wurde, weil sie unfreiwillig das im Parkett weit verbreitete Vorurteil der Irrelevanz der Gegenwartsdramatik bestätigt und von jeder weiteren Auseinandersetzung damit entlastet.


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