Als Peripherie im Zentrum erscheint die Gegend hier am Ausgang U-Bahnhof Möckernbrücke, zwischen Postbank und SPD-Zentrale. Über den Platz vor dem Büroturm pfeift der Wind. Vor hundertfünfzig Jahren war man hier schon auf den Feldern, heute geht man durch ein gebautes Narbenfeld Westberliner Großstadtplanung.
Als man den Anhalter Bahnhof - bis auf die Portalruine - und die Kriegstrümmer drum herum beseitigt hatte, wurde von der Arbeiterwohlfahrt erstmal ein Theater ans Hallesche Ufer gebaut. Mit Therese Giese in der Titelrolle eröffnete hier Peter Stein 1970 die Schaubühne programmatisch mit Brechts Die Mutter und schrieb die folgenden neun Jahre Theatergeschichte, bis er seine Truppe an den südlichen Kurfürstendamm verlegte.
Inzwischen
legte.Inzwischen waren auch die Wohnsilos fertig gestellt, die sich um den Mehringplatz türmen - heute eines der sozialen Brennpunkte der Stadt, mehr als die Hälfte der Bewohner leben hier von Sozialhilfe. Nein, gerne hat man sich hier in den letzten Jahren nicht aufgehalten, auch nicht als das Hebbeltheater unter Nele Härtling zum Gastspielhaus der internationalen freien Szene avancierte und gleich nebenan das AWO-Haus mit 20-minutes-Produktionen der Berliner Off-Szene agierte. Nach den Vorstellungen floh man in der Regel schnell wieder weg von hier.Das dürfte sich nun ändern. Seit dem vergangenen Wochenende hat sich die Aufenthaltsqualität dramatisch verbessert. Mit großem Aplomb eröffnete die Mannschaft um den früheren Volksbühnendramaturgen und Leiter des Festivals Theater der Welt 2002 Matthias Lilienthal mit dem Hebbeltheater, dem AWO-Haus und dem Theater am Ufer gleich drei Spielstätten unter dem Label Hebbel am Ufer, kurz HAU.Mit geschwollen blau geschlagenen Augen starrten schon seit Tagen von den Werbeplakaten drei frontal aufgenommene Gesichter; sie schienen Kampfgeist zeigen zu wollen - für eine Unternehmung, die Direktheit, Authentizität, Widerständigkeit verspricht. Dieses Versprechen wurde mit dem Eröffnungswochenende Kunst Verbrechen - Art without Crime fürs erste eingelöst: Das Theater als ein sozialer Ort, jenseits der gängigen Formate zwischen Authentizität und Entfremdungswahn.Draußen hat sich vorerst wenig getan: Eine Telefonzelle vor HAU 2 nimmt als urbaner Beichtstuhl unter der Nummer 11 Beichten entgegen, die hungrigen Gäste werden zwischen den Häusern von einer Ich-AG-mäßigen Crêpe-Bude versorgt, und im Morgengrauen hört man die Rausschmeißermusik des Griechen vom gegenüberliegenden Ufer. Drinnen war jedoch einiges umgeräumt, die Häuser mutierten zu Forum, Bühne, Club und Partyzone: das Theater als Labor und zivilisatorisches Medium urbaner Lebenswelten. Wie schon zu seinen Anfängen war die Bestuhlung aus dem Parterre des Hebbel rausgenommen, die Fokussierung auf Bühne und Protagonisten aufgehoben und jeder im Saal durfte sich als Publikum und Darsteller zugleich fühlen. Kultursenator Flierl und der Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, sprachen zur Eröffnung über Anarchie, Haushalsnotstand und die Notwendigkeit informeller Netzwerke, bevor in der von Hans Werner Krösinger nachgestellten Bundestagsrede des russischen Ministerpräsidenten Putin das Verhältnis von Politik und Verbrechen austariert wurde. Dem Reigen der Eröffnungsreden machte Christoph Schlingensief mit seinem Auftritt dann den Garaus, der treffend in der rhetorischen Frage an den "Kulturpräsidenten" gipfelte, warum man hier nicht, statt ein Theater neu zu eröffnen, schon längst ein Parkhaus gebaut habe.In einer der Installationen im oberen Rangfoyer konnten daraufhin bei Elena Kovylina via Internet virtuelle Morde in Auftrag gegeben werden, während die smarten Boys Dave, Henry und John zum Sonderpreis von 50 Cent für zwei Minuten in einer hübsch ausgeschlagenen Kabine ihren Körper zur Verfügung stellten. Über den ganzen Tag verteilt bis tief in die Nacht hinein berichteten in verschiedensten Labs und Lecture-Performances Referenten über das Verhältnis von zivilem Ungehorsam, Kunst und Illegalität vorwiegend in osteuropäischer Ländern.Unter das bekannte Premierenpublikum mischte sich am Freitag das Charlottengrader Jungrussenpublikum, das die Undergroundband Leningrad erwartete, ebenso wie Jungs mit Goldkettchen und Pumaturnschuhen aus der Nachbarschaft, die sich wenig über die Leibesvisitation der Security-Herren wunderten. Sie alle schienen ebenso selbstverständlich zum Inventar zu gehören wie das Service-Personal in Rotarmistenuniformen.Schon als Chefberater Frank Castorfs löste Lilienthal erfolgreich die engen Grenzen des Bühnenraums auf, suchte das Theater durch thematische Veranstaltungsreihen und neue Präsentationsformen an Gegenwartsdiskurse anzuschließen. Hier nun bespielt er die drei Häuser in einer Weise radikal und offen, wie es zuletzt bei der Eröffnung der Hamburger Kammerspiele vor drei Jahren mit der Filiale für Erinnerung auf Zeit gelang, nur dass Lilienthal dieses Modell weiter realisieren und erproben wird. Und das trotz eines vergleichsweise niedrigen Etats - ihm stehen lediglich 4,5 Millionen Euro pro Spielzeit als Grundfinanzierung zur Verfügung, das ist die Vorgabe für die nächsten drei Jahre; länger wollte er sich vorerst nicht verpflichten lassen.In dieser Zeit möchte er die Häuser von einer reinen Gastspiel- und Präsentationsstätte in einen Ort der Produktion verwandeln, der jungen, unbekannten Akteuren eine Plattform und Heimstatt bietet. Insofern fiel eine Vielzahl der glamourösen Auftritte am Eröffnungswochenende aus dem konzeptuellen Rahmen. Weniger Budenzauber versprechen zum Beispiel die stilleren Interventionen der Gruppe Rimini-Protokoll, die schon in der vergangenen Woche das Publikum zur Feldforschung ins Strafgericht Moabit einlud. Die Recherche des Theaterkollektivs um Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel galt einem Projekt, das sie im Januar im HAU2 unter dem Titel Zeugen! präsentieren werden, in dem sie die ritualisierte Öffentlichkeit des Strafgerichts auf seine medialen Bedingungen hin befragen.Über siebzig Aufführungen und Präsentationen werden im November im HAU-Kombinat zu sehen sein. Nach den Worten von Lilienthal frönt man allen Widrigkeiten zum Trotz einer "symbolischen Überproduktion in Zeiten öffentlicher Armut."Programm und Informationen zu HAU im Internet unter der Adresse: www.hebbel-am-ufer.de