Theater als Skeuomorphismus

Volksbühnenstreit In seiner Zürcher Dostojewski-Inszenierung setzt Frank Castorf zahlreiche Zeichen in Richtung seines Nachfolgers Chris Dercon und des Berliner Senats
Ausgabe 41/2017

Nun gehört das So-Tun-als-ob zum Kerngeschäft jedes Theaters. Mal mehr, mal weniger, auf unterschiedlichen Ebenen. Und es kann wunderschön sein und ergreifen und – nicht zuletzt – verletzen.

Nehmen wir zum Beispiel den Auftritt von Kathrin Angerer als Glafira Petrowna in Frank Castorfs jüngster Inszenierung: Dostojewskis humoreske Erzählung Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett am Zürcher Schauspielhaus. Nach gut drei Stunden Spieldauer stakst die einstige Volksbühnenikone und nun einzige Protagonistin des Abends kokett von rechts nach links über die Bühne zu einer Veranda. Dort hängt seit Beginn des Abends Damenwäsche zum Trocknen. Die Angerer greift sich zwei fleischfarbene Seidenstrümpfe, setzt sich, streift sich die Strümpfe über, blickt einmal großäugig ins Publikum, als wollte sie sagen, „da guckt ihr aber!“, und verlässt, wie sie gekommen war, wortlos die Bühne. Das war ergreifend, ein großer, wunderbarer Moment, der nur in diesem Moment funktioniert, in diesem Kontext, der im Kern heißt: Leute gucken anderen Leuten zu, vier Stunden.

Es ist die erste Inszenierung des langgedienten Intendanten der Volksbühne, seit ihn die Berliner Kulturpolitik vor die Tür gesetzt hat. Mit Zürich war ein Ort gewählt, der für Theater- und Welterneuerer von Wagner bis Lenin Exil und kreative Heimstatt war, in dessen Bedeutungskontinuum man sich gerne stellt. So war zu erwarten, dass Castorf hier auch Zeichen in Richtung seines Nachfolgers Chris Dercon und der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa setzen würde.

Sie bleiben in der Tat nicht aus. So will die lebenslustige Figur der Glafira nicht auf den Ball der Kárpoffs wie in der Vorlage, sondern in ironischer Anspielung auf die Saison-Eröffnung der Volksbühne „mit Botis auf dem Tempelhofer Flugfeld tanzen“. Wobei mit Botis der französische Tänzer Boris Charmatz gemeint ist, welcher Chris Dercons partizipative Großveranstaltung (siehe der Freitag 37/2017) choreografierte. Postdramatisches Tanzspektakel hier, illusionistisches Regietheater dort, Chris Dercon und Boris Charmatz auf der einen Seite, Frank Castorf und Kathrin Angerer auf der anderen, die Frage nach dem „Als-ob“ und seinem ästhetischen Mehrwert lässt sich hier am treffendsten mit dem Begriff des Skeuomorphismus beschreiben. Er meint, dass ein Produkt so aussieht wie sein Vorgänger, nur dass bei dem Imitierten weder das Material noch die Funktionsweise übereinstimmt, eine Audio-App zum Beispiel, deren digitale Oberfläche das Aussehen eines analogen Tonbandgeräts zeigt.

Das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz hat demnach auf der Oberfläche zu behaupten, die kreative Werkstatt von ehedem zu beherbergen, wo der Bär steppt wie je. Doch das Haus läuft Gefahr, von Anfang an in seiner Conceptual Correctness zu ersticken, wo in der Szene kein Bedarf an Spektakelräumen besteht und keiner da ist, diese zu bespielen. Darauf spielt Castorf in seiner Zürcher Inszenierung an.

Dabei ist auch er gezwungen, seine Benutzeroberfläche, seine Ästhetik, seine Dramaturgie zu überschreiben. Als wären wir beim Obermeister des illusionistischen Theaters Peter Stein, steht eine Datscha auf der Bühne, deren Schornstein fleißig in den Zuschauerraum dampft und High-Definition-Kameras machen die Aufnahmen aus dem Innern zum Augenschmaus. Das will bedeuten und lockt und sticht ins Zuschauerherz: „Du möchtest nicht mehr aufs Tempelhofer Feld!“

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