Eine Blackbox im Obergeschoss des Hamburger Bahnhofs, Museum für Gegenwartskunst, Berlin. Man hat bis dahin schon einiges gesehen in der Ausstellung Schmerz, die vergangene Woche eröffnet wurde. Man ist vorbei an Francis Bacons beeindruckendem Triptychon Crucification, einem mit Formalinpräparaten gefüllten Eisenschrank, einem säuberlich aufgereihten Arsenal chirurgischen Bestecks, Kreuzen und Kreuzigungen aus fünf Jahrhunderten, Bildern von Leid und Pein.
Am Ende der zweiten von vier Abteilungen der Ausstellung rühren einen die ekstatischen doch extrem verlangsamten Bewegungen eines jungen Mannes, der splitterfasernackt in einer Videoprojektion tanzt. Die Arbeit Brontosaurus der britischen Künstlerin Sam Taylor-Wood, Jahrgang 1967, inszeniert einen krassen Gegensatz: Die Videobilder sind mit Samuel Barbers Adagio for Strings unterlegt, das sich in einem weiten Bogen vom quälenden Larghetto der tiefen Streicher zu einem hohen, spitzen Ton der Violinen aufschwingt. Dann kehrt es in seinen melancholischen Anfang zurück: zehn Minuten musikalisierte Trauer, Einsamkeit und quälender Schmerz. Die Ekstase des Tanzes und die Depression der Musik klaffen krass auseinander, aber sie werden in der Slowmotion der ungeschnittenen Videobilder wieder zusammengeführt. Die Arbeit Sam Taylor-Woods fasziniert darum, weil sie wie kaum ein anderes Exponat eines ins Bewusstsein rückt: Die Unhintergehbarkeit und Uneinholbarkeit des wohl elementarsten menschlichen Gefühls, das in Berlin zum Thema gemacht wird - des Schmerzes.
Was sagen die Gebissspuren auf einem Stab, der noch Ende des 19. Jahrhunderts für narkosefreie Operationen verwendet wurde - ausgestellt im Eingangsbereich unter einer schwarzen Stoffhaube? Was erzählen tätowierte Hautfetzen über die schmerzhafte Prozedur ihrer Entstehung? Bei aller Direktheit der Exponate bleiben die erlittenen Qualen der Patienten nur zu erahnen. Liebe, Hass, Furcht und Angst sind medial zu vermitteln, nicht so der Schmerz.
Mag es der äußere Schmerz sein, den jeder mit dem eingeklemmten Finger in der Tür erlebt hat, der schwere innere Schmerz eines Krebspatienten oder der psychische Schmerz beim Verlust eines Menschen - alle sind unerträglich, weil sie nicht teilbar und nur schwer mitteilbar sind. So verweigert das Video Via Dolorosa des Engländers Mark Wallinger jedes Bild des Leidens. Über einen Ausschnitt einer Bibelverfilmung von Franco Zeffirelli, Jesus of Nazarth legt er ein schwarzes Quadrat, so dass nur noch der Ton und die Ränder des kinematografischen Passionsgeschehens wahrzunehmen sind. Der Betrachter hat sich sein eigenes Bild von der Leidensgeschichte zu machen, ist auf seine eigene Erfahrung zurückgeworfen. Polemisch könnte man von Wallingers Beitrag aus die gesamte Ausstellung für erledigt und gescheitert ansehen: Individuellem Schmerz eignet kein Bild.
Dabei ist der Ansatz der beiden Kuratoren: Eugen Blume, Leiter des Hamburger Bahnhofs, und Thomas Schnalke, Direktor des Medizinhistorischen Museums an der Charité, ambitioniert und mutig. Obwohl weit vor ihr geplant, setzt sie die Melancholie-Ausstellung der Neuen Nationalgalerie (Freitag 7/2006) fort, die im vergangenen Jahr den edlen Künstlerschmerz enzyklopädisch ausbreitete. Man verspricht sich einen Dialog der Disziplinen zum Thema Schmerz. Nun wird in einer härteren und übersichtlichen Schau konsequent Kunst- und Medizingeschichte in den beiden 400m voneinander entfernten Häusern zusammengeführt und konfrontiert die brutale Realität der medizinischen Wissenschaften mit ihren Präparaten, Werkzeugen und Techniken mit kulturhistorischen Zeugnissen von der Matthäuspassion Bachs, polizeilichen Ermittlungsfotos aus der SM-Szene über Sportdokumentationen bis hin zu Giovanni Battista Tiepolo und Bruce Nauman.
Für den Kunsthistoriker wie für den Mediziner steht die Figur des Jesus Christus, wie ihn die Renaissance hervorbrachte, am Ausgangspunkt der Auseinandersetzung. Das individuelle Leiden wird hier zum Mittel der Subjektwerdung. Wie sehr die Vorstellung von der Erlösung von allen Missständen auch heute noch durch das Leiden geprägt ist, zeigen in der Ausstellung neuere Arbeiten wie der Trauerzug in Bill Violas Observance oder die Albtraumzelle von Louise Bourgeois Cell VII.
Doch man vermisst in Berlin jene Arbeiten, in denen sich der Künstler stellvertretend und zumeist aus einer politischen Haltung heraus extremen Schmerzen ausgesetzt hat. Videoarbeiten der siebziger Jahre, von Valie Export, Gina Pane oder Chris Burden fehlen. Dafür stehen jetzt nur die Fotoserie von Schwarzweiß-Bildern einer masochistischen Verstümmelungsaktion von Rudolf Schwarzkogler und ein Video von Marina Abramovic. Dieses Defizit der Ausstellung liegt jedoch nicht nur daran, dass solche Performances und Aktionen bereits in der kurz vorher beendeten Ausstellung Into Me/ Out of Me in den Berliner Kunst-Werken gezeigt wurden und das Programm im Hamburger Bahnhof deswegen kurzfristig geändert werden musste. Die Macher wollen diesen Mangel auch ästhetisch begründet sehen: Wenn man sieht, wie sich der Performancekünstler Burden in Shoot 1971 vor laufender Kamera in den linken Oberarm schießen ließ, vermittelt sich im Grunde zum Thema Schmerz nicht mehr wie beim Anblick eines pfeildurchschossenen heiligen Sebastian aus Lindenholz.
Die Ausstellungsmacher verzichteten daher nicht nur auf Burden, sondern konsequent auf jede Horror-Filmssequenz wie man sie von Luis Buñuels Un chien andalou bis Rob Zombies House of 1000 Corpses hätte ausbreiten können. Sie verweigert sich jedoch nicht nur dem gefaketen Schmerz, sondern auch dem Realen, den Menschen anderen Menschen antun, die Folter etwa. Die Replika einer Eisernen Jungfrau wirkt hier wie ein billiges Utensil, das den fehlenden Ausflug ins Politische kaschieren will. Von Warhol und Beuys bis hin zu Marina Abramovic hätte es genug Belege gegeben.
Wenn die Ausstellung nach dem "Realen" des Schmerzes fragt, nach dem "Realen" des Ausdrucks, so verweist sie zunächst auf die Wissenschaft, die Medizin und ihr Geschäft, dem Schmerz beizukommen. Das ist stellenweise eindrucksvoll, wie beim Apparat, der Kopfschmerzen sichtbar machen soll, bestürzend da, wo einem die Hilflosigkeit der Medizin, des Leidens Herr zu werden, in Vitrinen sprachlos entgegenstürzt. Die Kunst dagegen schafft Vermittlung, Übergänge. Doch in den oft sehr engen Räumen kommt sie nur selten zur Entfaltung und bleibt bloßer Beleg wie Tiepolos schön ausgeleuchtete doch viel zu tief hängende Heilige Agathe.
Es fällt schwer zu erkennen, wie zum Beispiel Bruce Nauman mit seinen Videoarbeiten auch noch die letzte Grenze überschreitet. Die Arbeiten bräuchten dazu eigene Räume. Nun flimmern sie etwas verloren in der ambitionierten Ausstellungsarchitektur und der Betrachter kann nur ahnen, dass ihm direkt Schmerzen zugefügt werden sollen: ohrenbetäubendes Violinspiel im Video D E A D, oder nervendes Gebrabbel, "I´m Sorry and No, No, No, No", in Clown Torture. Von da ist es ein kleiner Schritt zu der - einer Folterkammer ähnlichen - Installation der jungen Israelin Micol Assaël, in deren unwirtlicher Gebläsekammer es niemand länger aushalten kann. Schmerz wird direkt zugefügt. Diese Arbeiten stellen in der Berliner Ausstellung den äußersten Pol der "Realität" des Schmerz dar, auf dessen Gegenseite die völlige Bildverweigerung bei Mark Wallinger steht.
Schmerz. Ausstellung im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart - Berlin und Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité. Noch bis zum 5. August, Katalog, DuMont, Köln 39,90 EUR
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