Z um Abschluss ein Wunschkonzert: Nicolas Stemann – mit dem Dramaturgen Benjamin von Blomberg neuer Leiter des Zürcher Schauspielhauses – stand an Keyboard, Mikro und Gitarre und sang jeden der Wünsche, die das Publikum über die Eröffnungstage auf Hunderte Post-it-Zettel geschrieben hatte, in Rock- und Blues-Improvisationen einzeln vor. Wie einige Jahre zuvor dem Intendanten der Zürcher Oper, Andreas Homoki, gelang es Stemann durch Charme und Witz, das schwierige Zürcher Publikum für sich zu gewinnen. Doch im Gegensatz zur Oper, die mit ihrem ungebrochenen bourgeoisen Repräsentationswillen gut aufgestellt ist, muss sich das Theater vermehrt etwas einfallen lassen. Dazu kommt auch in Zürich der Konkurrenzdruck zur Spielzeiteröffnung. Neben dem Schauspielhaus tritt das kleine Theater am Neumarkt mit drei Frauen, den Dramaturginnen Julia Reichert, Tine Milz und Hayat Erdoğan, eine neue Ära an. Das Kerngeschäft des Neumarkt-Theaters hatte einst in Off- und Avantgarde-Produktionen gelegen, die aber längst auch im Pfauen und im Schiffbau – den Hauptspielstätten des Schauspielhauses – untergekommen sind. So mancher Kulturobere würde es daher am liebsten mit dem Spielort der freien Szene in der Gessnerallee fusionieren. Der Legitimationsdruck ist entsprechend hoch. Die Gegenstrategien lauteten daher wie andernorts: Raus in den öffentlichen Raum, und Appropriationen der bildenden Kunst. Für beide Häuser. Tage bevor es richtig losging, pflanzten sie temporäre Show-Boxen an strategisch günstig erscheinenden Orten des Stadtraums auf.
Das Warmlaufen zur Premiere von They Shoot Horses, Don’t they?, einer Stückentwicklung, die US-amerikanische Tanzmarathons während der Weltwirtschaftskrise zur Grundlage hatte, wurde im Theater am Neumarkt wörtlich genommen. Es schickte seine Darsteller beim „Zürcher Theater Spektakel“ und im Hauptbahnhof vorab in einem gläsernen Kasten aufs Laufband – konzeptueller Vorlauf und Werbeversuch in einem. Mit der Premiere auf der engen Neumarkt-Bühne konnte danach trotz einer unschlüssigen Dramaturgie ein halber Erfolg verbucht werden. Denn von den acht Dancefloor-Figuren erfuhr man zu wenig. Auch die Rolle des Publikums, Komplize oder kritische Masse, blieb zu verschwommen.
Rauch, Licht, Frauenstimme
Blieb das Publikum bei der Neumarkt-Box draußen, kam es beim Schauspiel rein: Der Künstler Alexander Giesche hatte bereits für die Münchner Kammerspiele eine einfache, gut 20 auf 20 Meter große Kiste gebaut, mit Folien verkleidet, auf einen Sockel gesetzt und über Rampen begehbar gemacht. Drinnen erwarteten die Besucher Rauch, Licht und, über Lautsprecher eingespielt, eine Frauenstimme. In solcher Vereinzelung tat Orientierung not. War man daran gewöhnt, gab der Text Halt. Das war schön, und damit war man wieder ganz im Theater. Obwohl das Schauspielhaus über ungleich größere Ressourcen als das Neumarkt-Theater verfügt, verzichtete es auf Neuproduktionen. Stemann und Co. zeigten ausschließlich andernorts, in Hamburg, München, Warschau und New York bewährte Aufführungen, die nun ins Repertoire gehen. Die Zäsur zur Vorgängerintendanz ist dadurch härter. Es gibt keine Übernahmen. Doch man reduziert gleichzeitig den Stressfaktor und kann – das Theater wird weiblicher und formatiert sich in der Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst neu – programmatische Akzente setzen. Obwohl mit Stemann und von Blomberg wieder zwei Alpha-Männer am Ruder sind, setzen sie auf das Kollektiv und flache Hierarchien. Programmatisch auch hier, sie lassen die ersten Zürich-Premieren, Flex, inszeniert von Suna Gürler, und Franz Xaver Kroetz’ Wunschkonzert in der Regie der Polin Yana Ross, von Frauen bestreiten. Und auch noch bei der dritten Premiere, der Bearbeitung von Miranda Julys Roman Der erste fiese Typ in der Regie von Christopher Rüping, steht ein großartig aufgelegtes Frauenensemble auf der Bühne.
Alexander Giesches Box und Simona Biekšaitės Wunschkonzert-Bühnenbild etablierten erste Bezugnahmen auf die zeitgenössische Kunst. Installation und Interaktion waren angesagt. Mit den Aufführungen der US-amerikanischen Künstler Wu Tsang (Sudden Rise) und Trajal Harrell (In the Mood for Frankie) kamen dann zwei auf die Bühne, die ihre Wurzeln in der bildenden Kunst haben. Das geriet entsprechend bilderstark. Allerdings waren damit auch ein Dilemma und eine Zäsur markiert, das zeitgenössische Theater bewegt sich in beängstigendem Maße weg vom Text. Stemanns Trojaner nach Zürich war Faust I & II. Die Hamburger Inszenierung geriet auch in Zürich zum Triumph. Stemann und seinem Hauptdarsteller Sebastian Rudolph gelang es über weite Strecken, die Spannung zwischen Text und Performance, Tiefe und Klamauk zu halten. Was aber nutzt es, wenn Helena im zweiten Teil des Stücks sterbend eine Persephone anfleht, wenn keiner mehr weiß, dass hier eine Göttin der Unterwelt angerufen wird, die eben auch Auferstehung verspricht? Wundert es, dass die stärkste Inszenierung des Eröffnungsreigens die der jungen Leonie Böhm, Horváths Kasimir und Karoline, war? Das Jahrmarktbudendrama auf drei Figuren und einen Musiker reduziert, allesamt Jungs, wenige Gesten, große Gefühle, toll. Aber Text? Fehlanzeige!
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