Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald. Der war sehr finster und auch so bitter kalt. Da kamen sie an ein Häuschen... Das Theater ist auch so ein Wald mit Häuschen. Es hält Überraschungen, Abstürze und manchmal auch Großartiges bereit. "Du Arschloch, Du!" dröhnt es aus der wollhaarigen Brust des Schauspielers Bruno Cathomas - filzhutbewährt, schwarzer Latexmantel, ein knappes Höschen. Er gibt Peter, einen Psychopathen, der in dem Spiel, das ein paar Irre für die Anderen in einem Zeltlager aufführen werden, die Hexe verkörpert. Doch das kommt später. Momentan, ganz zu Anfang der viereinviertel Stunden der Berlinpremiere von Marius von Mayenburgs Turista, stehen alle 24 Darsteller im dämmrigen Rund. Das Publikum findet sich an diesem heißen Sommerabend nur langsam ein. "Du Arschloch, Du", raunzt Cathomas; das vorletzte Mal gilt zufällig dem zu spät kommenen BE-Intendanten Claus Peymann, der sich die Lacher allerdings mit der noch später eintreffenden Amelie Deuflhard von den Sophiensaelen teilen muss, die zuletzt mit einem "Spätarschloch, Du" abgefertigt wird.
Mit der Publikumsbeschimpfung überschreitet der belgische Regisseur Luc Perceval gleich zu Beginn die Grenze zwischen Bühne und Parkett, doch nicht, um den Illusionsraum des Theaters zu zerstören, sondern um diesen Illusionsraum als unsere Wirklichkeit zu etablieren. Dazu gehört, dass die Differenz zwischen Darsteller und Zuschauer minimal, ja im Grunde zufällig erscheinen soll, - jeder ist eigentlich auch Figur, die Schauspieler aber ebenso Personen. So entlässt Perceval die Akteure zu den Pausen nicht in die Garderobe, sondern sie mischen sich im Foyer unters Publikum. Den Illusionsraum Theater stellt der Regisseur paradoxer Weise im Verzicht auf Illusionismus her.
Turista entstand als Koproduktion mit den Wiener Festwochen und dem Antwerpener Het Toneelhuis, der bisherigen Hauptwirkungsstätte des Regisseurs, wohin die Inszenierung im Juni ziehen wird. Von dort brachte Perceval zwölf seiner belgischen Akteure mit, die bereits durch ihre extreme Körperlichkeit auffallen, aber erst recht durch ihr Niederländisch, das mit Videobeamer übersetzt, für Verfremdung und Irritation sorgt. Das Stück ist nach Das kalte Kind Percevals zweite Inszenierung eines Mayenburgtexts an der Schaubühne (siehe Freitag 03/2003). Auch hier geht es um die Sehnsüchte und Abgründe des bürgerlichen Familienlebens. Doch diesmal hat Mayenburg sein Panorama beträchtlich erweitert: Auf einem Zeltplatz, irgendwo in der "Ebene von Waterloo hinter dem Teutoburger Wald an der Marne", begegnen sich vier Familien mit ihren renitenten Kindern, Belgier, Niederländer, Deutsche und eine Truppe Irrer in ärztlicher Begleitung. Und als ob die beschworenen Schlachtfelder vergangener Kriege ihren Ungeist auf die Urlauber ausgegossen hätten, entbrennt rasch der Kampf zwischen Zeltnachbarn, Generationen und Geschlechtern - der Europäer im Ausnahmeraum.
Mayenburg bedient sich dabei einer wirksamen Dramaturgie, indem er seine Erzählungen in sieben Teile, sieben Tage teilt, an deren Ende jeweils der gewaltsame Tod des neunjährigen Jungen Oli steht. Sechs Mal wird er im Wasser aufgefunden, und jedes Mal bringt sich ein anderer in Verdacht. Wurde er von den Einheimischen Jägern bei der Wachteljagd erschossen? Hat ihn der Psychotiker Peter, die Hexe, zerfleischt? Brachte ihn der von der Mutter verlassene, weil impotente Vater um? Oder der pädophile Dietmar? Mit ungerührter Schärfe wird jedes Mal eine Frau Dr. Schnook den Tod feststellen und den Eltern ihr Mitleid aussprechen, ehe man zur Tagesordnung übergeht.
Die Täterfrage lässt Mayenburg bewusst offen. Die Lagergemeinschaft selbst ist es, die in ihrem Versagen, den Tod zu verhindern, vorgeführt werden soll. Und damit lautet Mayenburgs und Percevals beunruhigende These, dass sich diese Gemeinschaft erst über den wiederholten, gewaltsamen Ausschluss beziehungsweise den Opfer-Tod eines ihrer Mitglieder herstellt. Hinter der kausalen Ordnung lauert bei ihnen eine wirkungsmächtigere, zyklische, triebgesteuerte Logik des Unbewussten, aus der es - außer im Märchen und auf dem Theater - kein Entrinnen gibt.
Perceval interessiert sich für die Triebdynamik der Akteure und ihrer Figuren, für ihren Narzissmus, für ihre Sucht nach Anerkennung. Er verzichtet aufs Bebildern, auf illustrative Requisiten. Außer den Schauspielern steht zu Anfang nur ein gewaltiges, gut drei Meter hohes eiförmiges Objekt im holzausgeschlagenen Rund der Bühnenarena von Annette Kurz. Aber auch das sakral anmutende Ei wird bald herausgeschafft - ein Bild für die spirituelle Verarmung der Urlaubsgemeinschaft.
Für die sieben Teile entwirft Perceval drei choreographische Grundfiguren, aus denen sich die einzelnen Szenen entwickeln und in die sie auch wieder zurückgebunden werden. Sie reichen vom gemeinsamen rasenden Lauf um das Ei in den ersten drei Teilen, über ein chaotisches Kreuz und Quer Aller gegen Alle, bis zu der statischen Abschlussfigur in den letzten zwei: Über eine Stunde steht die Campingtruppe in einer Reihe frontal zum Publikum gewendet. Gerade in diesen letzten Teilen erscheint die nach Entgrenzung und Wunscherfüllung gierende Urlaubs-Gemeinschaft am bedrohlichsten und bedrohtesten; der letzte Tod Olis gehört wohl zum Gruseligsten und Ergreifendsten, das man seit langem auf einer Bühne sehen konnte. Von schier unendlich langen Pausen unterbrochen, wimmert der wuchtige, wasserstoffblonde Benny Claessens als Oli kniend um sein Leben. Spielkameraden haben ihn an einen Baum gefesselt, von dem er jetzt nicht mehr loskommt. Auch in diesem Fall wird sich Schuld und Verantwortung nicht mehr aufklären lassen.
Doch am biblisch siebten Tag ist Oli wieder da und es darf über alle Brüche und Gräben hinweg gefeiert werden. Noch während die Truppe Irrer mit ihrem Hänsel-und-Gretel-Spiel zum Zuge kommt, kippt einer nach dem Anderen müde und betrunken nach hinten. Nur dem Liebespaar Dani und Sonja wird es wie Hänsel und Gretel gelingen, dem Wald und der Bühne und somit der dort herrschenden, ausweglos scheinenden Opferlogik zu entrinnen. Sie nehmen den feisten Oli an die Hand, der am Ende des verstörend schönen Abends nur noch wünschen kann: "Wenn ich einmal groß bin, möchte ich klein sein."
Turista im Het Toneelhuis Antwerpen 10.-12. Juni und 14.-18. Juni. An der Schaubühne am Lehniner Platz wieder im Herbst 2005
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