Zunehmende Spaltung

Demokratie Kann eine private Trauung doch politisch sein?

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Zuweilen stehen die verräterischen Wesensmerkmale eines Ereignisses im Subtext.

Nicht einmal jene Stimmen, welche den privaten Charakter der Hochzeit unseres Bundesfinanzministers mit einer "Chefreporterin Politik" betonen wollten, vermochten dabei ausreichend Mäßigung und Distanz walten zu lassen, um den Wahrheitsgehalt ihrer eigenen Aussage zu untermauern. Die Therapeuten-Empfehlung des Bundesjustizministers und Parteifreundes ist vielsagend, und sie offenbart die nervöse Rezeption der Kritik.

Der gegenseitige Vorwurf des "Wahns" steht pars pro toto für den Zeitgeist der unversöhnlichen Debattenkultur.

Dabei wären Trauung und die geplanten Budgetkürzungen beim Sozialen Arbeitsmarkt ohne Vorgeschichte, und als singuläre Ereignisse betrachtet, tatsächlich nicht der gesellschaftlichen Aufregung wert. Genau dies sind sie aber eben gerade nicht: Herausgelöst.

Tatsächlich sind sie eingebettet in eine soziale Entwicklung, welche man gut begründet als Abstiegsgesellschaft definieren darf.

Ein Blick in die Kommentarspalten der Onlineausgaben politischer Magazine offenbart den geradezu frappierenden Hass zwischen polarisierten Lagern. Längst existieren beispielsweise zwei Spiegel Online Universen, nämlich der redaktionelle Teil, und der inzwischen gefühlt größere Kommentarteil, in welchem sich von der Klimawandelleugnung bis zur offen volksverhetzenden Hatespeech der gesamte Frust sozialer Anspannung entlädt.

Hier von Seiten der Publizisten noch vom Versuch einer konstruktiven Debatte zu fabulieren, dies grenzt an bewusste Blindheit.

Die jeweiligen Positionen werden vielmehr in den Boden gerammt, ohne jedwede Bereitschaft dem gegnerischen Argument überhaupt auch nur die geringste Beachtung zu schenken.

Und an dieser Front geht es dann eben auch nicht mehr um Nuancen oder Austausch. Und erst recht nicht um Toleranz.

Hier bilden sich gerade die Keimzellen eben jener Spaltung, welche in den Vereinigten Staaten von Amerika längst demokratiegefährdend wirkt, GB in den Brexit getrieben hat, und den Rechtspopulismus in Frankreich zunehmend salonfähig macht.

Unserer Zukunft fehlt ein glaubwürdiges Heilsversprechen. Ach was rede ich - es fehlt ja bereits an einem glaubwürdigen "Wir"-Begriff.

"Wir" sind zunehmend jene angeblich "normale", "hart arbeitende" Klasse, die trotz Fleiß zu nichts kommt, weil "Eliten und Spinner" den Wohlstand mit Extravaganzen verpulvern. "Wir" blicken sehnsüchtig in eine verklärte Vergangenheit, in welcher der Westen noch die Welt, und der "Deutsche" den eigenen Staat dominierte. Als man ohne schlechtes Gewissen den eigenen Verdienst weniger privilegierten Kulturen im Urlaub in Form von Fremdwährungen unter die Nase reiben konnte, und vorallem ein Wort aufmunternd erschien:

"Wachstum"!

Und dort, wo früher kräftige Pflanzen wuchsen, da verdorren jetzt sprichwörtlich die Perspektiven. "Verzicht" könnte das Wort des Jahres, ja sogar des Jahrhunderts werden. Wenig ist übrig geblieben von den Fernreisen, den Jacobsmuschelorgien in den öffentlich-rechtlichen Kochsendungen, von immer stärker motorisierten PS Boliden, XXL Polsterlandschaften, Grillstationen samt riesigen Porterhouse-Steaks.

Nahezu klaustrophobisch wirken dagegen die Schreckenszenarien der Gegenwart: Die Energiekrise, die Inflation, die Rentenkrise, die Klima-Katastrophe, der Pflegenotstand, der Justiznotstand, die Pandemie, das Ende der Globalisierung, und die Stärke der Autokratien.

Längst hat ein Treten nach "unten"und "oben" begonnen. Werden verfassungsrechtlich garantierte Sozialleistungen offen in Frage gestellt. Erst recht bei Migrant*innen. Auch die Freiheit des Besitzes steht im Angesicht von Tafeln und Wohnungsnot zur Disposition.

Dies vermag die Nervösität des Bundesjustizministers ebenso zu erklären, wie die Wirkung eben jener Eheschließung.

Ja, auf Sylt wehte tatsächlich eine starke Brise...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hanke

Senior Rossi sucht das Glück, notfalls mit Serotoninwiederaufnahmehemmern

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