Die Bürde der späten Geburt

Sozialismus Was verbindet Kevin Kühnert mit einer Leiter zum Dach der Welt?

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Das Außergewöhnliche geschah an einem dieser seltsam unspektakulären frühsommerlichen Freitag Abende, die trotz medialem Überangebot zunächst nichts jenseits gähnender Langeweile zu versprechen gedachten.

Ich empfand keinen rechten Appetit, und konnte mich weder für eine bestimmte Mahlzeit, noch eine Lektüre oder ein alternatives Unterhaltungsangebot erwärmen. Ich liebäugelte bereits mit dem Gedanken an eine frühzeitige Bettflucht, als der sonore Klingelton meines abgenutzten Festnetztelefones einen unerwarteten Anrufer ankündigte.

Waldemar, mein gar nicht so geschätzter – und ebenso wie meine Wenigkeit rollstuhlfahrender – Nachbar präsentierte mir in enthusiastischen Worten den neuesten Beleg seiner Technikaffinität, und lud ein zu einer spontanen Demonstration in seinem Appartement im zweiten Obergeschoss.

"Willst du heute noch auf den Mount Everest? Ja oder Ja? ... Nein, ich mache keinen Spaß..."

Die Frage klang zu absurd, um nicht eine diebische Vorfreude auf einen Moment bitterbösester Situationskomik zu generieren, und so sagte ich spontan zu.

"Virtual Reality ist DER SHIT. Gerade für Leute wie uns", grinste er über beide Wangen, als ich in sein Wohnzimmer einrollte, und wieder einmal am unpraktischen Flokati hängenblieb.

In der Nähe seines grenzenlos unmodernen Buchenoptikschreibtisches aus Kinder- und Jugendtagen, prangte auf einem riesigen, anachronistischen Computertower, umgeben von einem Wust abstrakter Kabelverbindungen, eine illustre Skibrille in Fliegenaugenoptik, welche ich mir sogleich aufsetzen sollte. Der erste Eindruck war Hitze, und der verbliebene Waldemar'sche Restschweiss in der Randgummierung, und dann... "Wow. Jup, die dreidimensionale Immersion der Oculus Rift CV1 war durchaus beeindruckend", wie ich mir heimlich zähneknirschend eingestehen musste.

Everest VR lautete der Name der sogenannten Software Experience, welche Waldi für mich vorselektiert hatte.

Diese imitierte eine vergleichsweise realistische Besteigung des Königs aller Berge, einschließlich Basiscamp und Sherpas. Auf dem Schreibtisch hatte der stolze Brillenbesitzer zusätzlich einen kleinen Batteriebetriebenen Ventilator aufgebaut, um die frische Gebirgsluft zu simulieren, und der flüssige Kunstduft eines USB-Verdampfers versprühte den Charme von Eisgeruch, respektive dessen was Waldemar sich darunter vorstellte. Mir selbst erschien er eher wie ein Weihnachtsduft.

Ich versuchte mich noch an die ungewohnte Controllersteuerung zu gewöhnen, als meine Augen den surrealsten Gegenstand erspähten, den ich an diesem Ort nicht erwartet hätte. Nicht die monochrome Landschaft des Himalayas faszinierte mich, und auch nicht die überwältigenden Möglichkeiten dieses digitalen Spielzeuges, sondern...eine riesige Leiter. Ja, eine ganz triviale Leiter.

Diese wurde offensichtlich von der nepalesischen Regierung installiert, um den internationalen Klettertouristen den Aufstieg gravierend zu erleichtern, und Gipfelsturm bedingten Staus präventiv entgegen zu wirken. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lachen.

Jegliche transzendente Bedeutung, welche durch diese Extremerfahrung des Gipfelaufstieges symbolisiert werden sollte, wurde auf das Albernste entstellt durch diese Treppenhilfe, und meine Anwesenheit in einem Voreifeler Wohnzimmer.

Und in diesem Augenblick begriff ich wieder einmal die ganze Tragik meiner und folgender Generationen:

Es wurde bereits gemacht. Entdeckt. Realisiert. Einfach alles.

Als wäre es nicht schwer genug, sich in der krächzenden Kakophonie der Stimmen von über acht Milliarden Mitbewohnern überhaupt noch Gehör verschaffen zu können, so blieb man doch dazu verdammt, immer zu spät zu erscheinen.

Jeder Song, jede Geschichte, jeder Film wurde bereits erzählt, und es würde gleichgültig sein mit welcher Bedeutungschwangerschaft man beim Repetieren der Harmoniefolge C-Dur/G-Dur/a-moll/F-Dur in die Smartphonekamera starren würde.

Egal welche touristischen Entbehrungen und Unannehmlichkeiten man auf sich laden würde, um nur einmal im Rampenlicht stehen zu dürfen, es bestand ja dennoch die ewige Gefahr bei der Heimkehr von den noch exotischeren Grenzerfahrungen enger Freunde übertrumpft zu werden.

Was haben wir uns nicht abgestrampelt. Baristakurse belegt und Valrhona Kakaopulver voller pedantischer Akribie auf den perfekten Milchschaum gestreut. Grillen zur Kunstform erhoben, oder Hochsitze angesägt. Kraftfahrzeuge bis zum Zulassungsentzug entstellt.

Wir Männer liessen uns bakterienverseuchte Bärte wachsen, die wir nur ausgesuchtesten US-amerikanischen Importpflegeprodukten anvertrauten, um unseren Freundinnen wenigstens ein bischen vorgaukeln zu können, im Kern doch ein echter Grenzland Trapper zu sein.

Und doch reichte es nie. Im Discounterregal prangte jetzt eine Tüte mit blauen französischen Alpensalz gewürzten Trüffelkartoffelkesselchips. "Kann man aber auch ganz einfach selber machen!", vermochte Aileen den magischen Instagram Moment gleich wieder zu zerstören.

In den Wissenschaften war die interdisziplinäre Global Team Forschung ohnehin längst selbstverständliche Norm.

Diese Epoche würde keine Isaac Newtons, Robert Kochs, Cookes, Galileos, Kants, Lockes, Hobbes und Einsteins mehr hervor bringen. Und wenn überhaupt, dann nur unscheinbar, und als Randnotiz.

Vielleicht ist Banksy der letzte prominente Künstler. Ironischerweise aufgrund seiner Unsichtbarkeit.

Uns bleibt nur das Zitat. Nicht umsonst wurden Kevin Kühnerts Träume vom demokratischen Sozialismus heute so gnadenlos medial zerrissen. Zu abgeliebt wirkte diese Utopie.

Das Zeitalter des Individualismus ist in Wahrheit der Abgesang desselben.

Wahre Freiheit findet man heute nur noch in der Unterlassung. Und möglicherweise besteht in dieser bitteren Erkenntnis unsere wirkliche kollektive Chance auf ein harmonischeres globales Zusammenleben. Wir dürfen es nur nicht als Innovation verkaufen wollen, denn das Informationszeitalter toleriert keine Lügen. Zumindest keine so bescheidenen.

Ich wünsche allen ein schönes Wochenende.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hanke

Senior Rossi sucht das Glück, notfalls mit Serotoninwiederaufnahmehemmern

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