What’s the point of coming out when you have nowhere to go?“ Der erste Satz kommt wie ein Schlag. Schauspielerin Riah May Knight eröffnet damit die Lange Nacht des Coming-Outs im kleinen Studio R des Berliner Maxim-Gorki-Theaters. Ihr Gedicht spricht sie für sich und für alle anderen Roma. Wohin sollen sie gehen, ohne Land, Nation und klar umrissene Identität?
Dieser Frage will sich die erste Roma-Biennale stellen. Eine Biennale nur für Roma, das war der Traum des Künstlers Damian Le Bas, seit er und seine Frau Delaine 2007 im ersten Roma-Pavillon auf der renommierten Biennale in Venedig ausstellten. Damian Le Bas ist vergangenen Dezember gestorben, Delaine hat den Traum nun alleine umgesetzt. Obwohl die Frau mit den langen roten Haaren das niemals so sagen würde, denn das Festival war eine Teamarbeit und sie „nur“ die Kuratorin. Gemeinsam mit dem Autor und Schauspieler Hamze Bytyçi hat sie dazu verschiedene Roma-Künstler ins Maxim-Gorki-Theater geholt, die mit Schauspielern des Ensembles Performances erarbeitet haben, in denen sie von ihrem Coming-out erzählen, als Roma. Gorki-Hausregisseurin Yael Ronen zeigt ihr Theaterstück Roma Armee, die Utopie einer gemeinsamen Verteidigungsstrategie. Die Demonstration Romaday Parade führt vom Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma zum Brandenburger Tor und schließlich zum Maxim-Gorki-Theater. Dort ist auch unter dem Titel Gypsyland eine Retrospektive der Werke von Damian Le Bas zu sehen. Seine Ideen für eine Welt, in der sich nationale Grenzen zu einem Land der Roma verschieben lassen, hat er in Plakaten und Installationen umgesetzt. Er will ihnen einen Raum schaffen, eine Regierung, eine eigene Armee.
Eröffnet wird das Festival mit der Langen Nacht des Coming-Outs, einer Performance, in deren Verlauf sich zwölf Künstlerinnen und Künstler auf unterschiedliche Weise mit ihrer Identität auseinandersetzen. Auch Delaine Le Bas hat ein Coming-out hinter sich. Die 53-Jährige wuchs in einer Roma-Familie in Großbritannien auf und schämte sich lange Zeit für ihre Herkunft. Als Einzige von fünf Kindern besuchte sie dann eine Universität und wurde Künstlerin.
In ihrer Performance Romani Embassy tanzt sie alleine mit einer Bärenmaske auf dem Kopf im Foyer des Theaters. Leise spielt Musik aus ihrem Laptop, den sie in der Hand trägt. Sie muss sich an den Menschen vorbeidrängeln, um überhaupt einen Platz zu finden. Die Gäste nehmen sie kaum wahr, sie warten auf den Beginn der Premiere, einige beobachten sie irritiert. Es ist dieser Blick, den Le Bas mit ihrer Performance vorführen will. Der befremdete Blick der Anderen, das unsichere Zurückweichen vor dem, was sie ist: eine Roma. Das Zurückweichen, zeigt ihre Performance, es geschieht sogar unter denen, die extra für die Roma-Biennale hierhergekommen sind. Es hat etwas mit der Unsicherheit gegenüber einer fremden Identität zu tun, die so schwer greifbar ist, auch wenn ein aufgeklärtes Publikum längst den Klischeebildern des stehlenden, verlumpten „Zigeuners“ abgeschworen hat und die Bezeichnung längst diskreditiert ist.
Auf der Suche nach Helden
„Dieser Gypsy-Bär tanzt für sich selbst“, schreibt Delaine Le Bas an die Wand eines Holzkastens. Ihre Performance erscheint wie die traurige Vorstellung eines Tanzbären, der für das belustigte Publikum eine Zirkusnummer aufführt. Aber sie will sich die Deutung dessen, was sie tut, zurückholen. Mag sein, dass sie dieser „Zigeuner-Bär“ ist, aber was sie tut, tut sie nicht für die Anderen. Wenn es die stört, dann ist es ihr Problem, nicht Delaines.
Drinnen im Studio R hustet das Publikum vom Rauch, drei junge Frauen bewegen sich in einer futuristischen Welt. Sie ist wirr diese Welt der unsicheren Identitäten, die hier aufgemacht wird, bunt und schrill und nicht gleich zu verstehen – und sie spielt mit den Ängsten der Roma vor Diskriminierung und Verfolgung in der Zukunft. Ein Mann liegt in einer weißen Zwangsjacke auf der Bühne. Es ist Hamze Bytyçi, er verkörpert den Geist der Roma. Auf der Bühne erzählt Bytyçi seine Geschichte des Schweigens. Die Zwangsjacke sind die Gedanken der Anderen, der Gesellschaft, die den Roma eine Rolle zuweist. Wenn er spricht, wird er freier, weil das Publikum zuhört, weil er sprechen darf. Bytyçis Botschaft ist überdeutlich, wenn schon sonst alles andere so verwirrend ist, vielleicht braucht es das, diese Deutlichkeit, vielleicht geht es anders nicht in die Köpfe hinein.
Roma haben keinen Ort, der nur ihnen gehört, sie haben keine Nation, nicht alle sprechen die gleiche Sprache: Romanes. Noch nicht einmal ihre Geschichte ist gesichert. Was ist ihnen also gemeinsam? 1971 einigte sich eine Gruppe von Roma auf eine Flagge: Das Wagenrad in ihrer Mitte symbolisiert die Wanderbewegung. Doch auch dieses Zeichen können nicht alle als das ihre anerkennen. Der deutsche Rat der Sinti und Roma argumentiert etwa, dass der Aspekt des Wanderns nicht auf alle Roma zutreffe. Die Roma sind eine der weltweit am schlechtesten geschützten Minderheiten, und viele von ihnen schämen sich selbst, ihr anzugehören.
Die Lange Nacht des Coming-Outs ist deshalb vor allem eine Suche nach den eigenen Identitäten – sie zeigt, wie schwierig sich diese gerade für junge Roma gestaltet, weil sie nur schwer ihre Helden finden. Candis Nergaard erzählt in goldener Boxmontur von ihrem Vorbild: dem Boxer „Rukeli“, der in den 1930er Jahren als großes Talent galt. Sein Name ist mit schwarzen Pailletten auf den Bund ihrer Hose gestickt. Dem Sinti – mit bürgerlichem Namen Johann Wilhelm Trollmann – wurde aus rassistischen Motiven sein Meistertitel aberkannt. Er wurde daraufhin gezwungen, gegen den erfolgreichen deutschen Profi-Boxer Gustav Eder anzutreten, durfte allerdings nicht seine gewohnte Technik verwenden und ging nach fünf Runden, in denen er starr im Ring die Schläge abwartete, k. o. Der Kampf diente allein dem Ziel, die Überlegenheit der arischen Rasse zu demonstrieren. Der talentierte Boxer wurde schließlich von einem Häftling im KZ erschlagen, nachdem er im Boxkampf erneut gewonnen hatte. „Kämpf für mich, Rukeli!“, ruft die Schauspielerin und hebt die goldenen Fäuste. Auf ihnen ist der Schriftzug der Firma Lonsdale zu erkennen, die bei rechtsnationalen Gruppen beliebt ist. Schließlich zieht Nergaard, den Anweisungen ihrer Eltern folgend, einen Rock an, sie fügt sich also letztlich doch einer Rolle.
Die Performances der Roma-Darsteller verbindet vor allem eines: Immer wieder geht es um die Unfähigkeit, zur Gesellschaft zu gehören und in deren Stereotyp zu passen. So versucht der „Chamelonman“ seine Hautfarbe zu verändern. Er rekapituliert ein Gespräch mit seinen Eltern, in dem er ihnen sagt, dass er ein „Gypsy“ sei. Die Eltern sind geschockt. „Ich weiß Mama, du sagst, ich wäre alles, nur kein Roma“, sagt er verzweifelt. Die Scham seiner Eltern – er will sie überwinden. Ein anderer, es ist der Sohn von Damian und Delaine, Damian Le Bas spricht darüber, dass er wegen seines Aussehens nicht als Roma erkannt werde. In einer Tanzperformance ziehen sich schließlich zwei Künstler gegenseitig bunte Kleider an und aus. Die Kleidungsstücke tragen Pailletten und üppige Blumenmuster, gelbe Spitze und bunte Applikationen. Viele der Kostüme hat Delaine Le Bas in liebevoller Detailarbeit genäht.
Die Biennale will umgekehrt die Zuschauer damit konfrontieren, wie sie Roma wahrnehmen, welche Geschichte sie sich selbst von ihnen erzählen. Damit, dass auch sie ihren Teil zur Verfestigung der Klischees beitragen. Roma, so die Aussage, haben viele Gesichter. Dass das Ganze mitunter ein bisschen wirr und dann wieder allzu demonstrativ wird, macht es dem Zuschauer manchmal schwer. Stellenweise wachsen die Darsteller nicht über die Klischees hinaus, scheinen selbst zu gefangen in den Bildern von zerlumpten, verlotterten Reisenden, als die sie so häufig klischeehaft dargestellt werden.
Sozialer Status als Grenze
„The Roma Stars are out now!“, mit diesen Worten beendet Delaine Le Bas das Spektakel. Sie liest einen Brief an ihren verstorbenen Ehemann vor. Barfuß steht sie in schwarz glitzernder Trauerrobe auf der Bühne. Der Traum ihres Mannes, er ist für vier Tage Wirklichkeit geworden: eine Roma-Biennale, eine Roma-Armee, eine Roma-Nation. Und es ist durchaus als Fortschritt zu werten, wenn sie in der arrivierten Kunstwelt der Nationen – sei es mit einem eigenen Pavillon unter den Länderpavillons auf der Biennale in Venedig oder eben wie hier mit einem eigenen Biennale-Format – ihren Platz behaupten können. De Bas’ Karten eines „Gypsyland“ hängen in den Räumen des Maxim-Gorki-Theaters verteilt. Globen sind überwuchert mit Gesichtern, Wagenrädern und Roma-Figuren, sie sollen Grenzen einreißen und Nationen verbinden. Zehn Jahre lang hat Damian Le Bas mit diesen Karten gearbeitet. „Grenzen“, erklärt Delaine Le Bas seine Arbeit, „hängen von deinem sozialen Status ab. Sie sind immer verschiebbar gewesen.“ Im jungen, multiethnischen Publikum des Gorki scheint das vielleicht so. Für Berlin als Ganzes bleibt die Aussage indes Theorie: Hier haben die Diskriminierungen gegen Roma im vergangenen Jahr zugenommen. 167 antiziganistische Vorfälle hat der Verein Amaro Foro für 2017 erfasst, 14 Prozent mehr gegenüber dem Vorjahr. Anstatt Grenzen einzureißen, zieht Europa zurzeit wieder Grenzen hoch.
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