Und dann: Schulterzucken

Asyl Monatelang haben Flüchtlinge in Berlin für ein Bleiberecht protestiert. Nun werden sie in die Illegalität gedrängt
Ausgabe 14/2015
Eigentlich sollten sie die Gerhart-Hauptmann-Schule längst verlassen haben
Eigentlich sollten sie die Gerhart-Hauptmann-Schule längst verlassen haben

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Bashiru* steht auf dem Berliner Oranienplatz. Der nigerianische Flüchtling ist immer noch da. Er zeigt auf die Linien, die verschieden große Rechtecke auf dem Rasen markieren. Mit einem Bein steht er in dem Rechteck, das damals die Küche war. Hier standen früher die Zelte. Hier hat er mit anderen Flüchtlingen zusammen gelebt und für eine andere, für eine bessere Politik protestiert. Monatelang haben sie ausgeharrt. Als sie gingen, hofften sie auf ein Bleiberecht. Die Integrationssenatorin Dilek Kolat von der SPD habe es ihnen versprochen, sagen die Flüchtlinge. Ein Sprecher Kolats sagt, nur die Einzelfallprüfung sei versprochen worden, nicht deren Erfolg. Wie entschieden werde, sei ohnehin Sache des Bundes, nicht der Stadt. Nun fühlen sich die Flüchtlinge verschaukelt. Viele dürfen nicht mehr in Deutschland leben. Trotzdem sind sie noch da. Sie leben in der Illegalität oder bereiten sich darauf vor.

Der Oranienplatz war das Zeichen einer neuen sozialen Bewegung in Deutschland. Flüchtlinge sind aus Würzburg nach Berlin gelaufen, haben in Kreuzberg ihre Zelte aufgeschlagen und forderten ein Bleiberecht für alle. Die Politik wollte sie vertreiben. Doch sie blieben. Bis es einen Deal gab, der sich nun als unvorteilhaft herausstellt.

Irrationale Hoffnungen

Wer das deutsche Asylrecht kennt, hätte es schon damals wissen können. Hierzulande gibt es Asyl nur für politisch Verfolgte. Armutszuwanderung ist im Gesetz nicht vorgesehen. Zudem ist Deutschland für das Asylverfahren oft gar nicht zuständig. Durch die Dublin-III-Regel muss sich das „Ankunftsland“ um die Menschen kümmern, also das EU-Land, in dem ein Flüchtling sich das erste Mal meldet oder aufgegriffen wird. Ein Bleiberecht konnte der Berliner Senat daher gar nicht anbieten. Die versprochene Einzelfallprüfung und das Abschiebeverbot währenddessen bedeutet, vor allem: mehr Zeit. Die Flüchtlinge erhielten zudem Gemeinschaftsunterkünfte und finanzielle Unterstützung.

Doch durch die Zugeständnisse sind Hoffnungen entstanden, die sich bis heute hartnäckig halten. Und sie werden immer irrationaler. Das sehe ich an Bashiru, den meine Familie im Winter aufgenommen hatte. Vor kurzem erhielt er einen Brief vom Sozialamt zur Vorlage bei der Ausländerbehörde. Er fragte mich, ob die Behörde auch eine Wohnung für ihn suche. Doch in dem Brief stand nur, dass er zum Ablauf seiner Duldung am 14. April bei der Ausländerbehörde den Brief vorlegen sollte, um nachzuweisen, dass er Sozialhilfeleistungen bezogen hatte. Für Bashiru sind diese Aussagen im Beamtendeutsch unverständlich.

Am 14. April stellte er sich dann bei der Behörde vor und erhielt eine Verlängerung der Duldung um drei Monate. Danach solle er mit einem Ticket nach Italien noch einmal wieder kommen. Triumphierend präsentierte er mir die Verlängerung der Duldung. Warum er sie bekommen hat, weiß er nicht.

Fragt man ihn, was er nach dem Ablauf dieser Frist tun wird, zuckt er die Schultern. Bei meinen Eltern wird er bis Ende des Monats ausziehen. Gerade lernt er Deutsch, geht mit Freunden ins Fitnessstudio. Bashiru hat eine illegale Arbeit gefunden, die seine Lebensgrundlage sichert - auch wenn er dafür sechs Tage in der Woche arbeitet. Weiter in die Zukunft blicken will er nicht. Weiter in die Zukunft blicken will momentan niemand. Die 576 Einzelverfahren sind inzwischen abgeschlossen. Geprüft wurde jeder einzelne Fall – und dann abgelehnt. Es gab lediglich drei positive Bescheide, und die seien unabhängig von der Vereinbarung mit dem Senat entstanden, berichtet die Rechtsanwältin Berenice Bohlö, die einige der Flüchtlinge im Verfahren vertrat.

Der Schutz durch die laufende Einzelfallprüfung ist bei vielen nun erloschen. Bereits im Oktober 2014 mussten 99 Flüchtlinge über Nacht ihre Unterbringungen verlassen. Sie wurden aufgefordert, in ihre Ankunftsländer zurückzukehren. In der Praxis jedoch wurde damit die Verantwortung für die Flüchtlinge an Kirchen und private Flüchtlingsorganisationen übergeben, die sich um Unterbringungen kümmerten. Auch Rainer Börner, Leiter eines Jugendclubs in Berlin-Friedrichshain, bot 20 Flüchtlingen Schutz. Später brachte er sie in Wohnungen unter. Durch Spenden finanzierte er Miete und Lebensunterhalt für den Winter. Doch der ist jetzt vorbei, das Spendengeld bald aufgebraucht. In Börners Gesicht zeigt sich Ratlosigkeit. „Man weiß nicht, wie man das beenden soll.“ Ende April müsse endgültig Schluss sein.

Vielen Flüchtlingen droht die Abschiebung nach Italien, dort haben sie erstmals europäischen Boden betreten. Bei manchen läuft dort noch ihr Asylverfahren. Werden sie abgelehnt, dürfen sie auch in Deutschland keinen neuen Antrag stellen. Andere haben bereits italienisches Aufenthaltsrecht, dürfen aber nicht außerhalb Italiens arbeiten. Bashiru und seine Freunde verstehen oft die Unterschiede zwischen ihren Situationen nicht und warten vergeblich auf positive Nachricht. Gleichzeitig wächst die Angst vor den Behörden. Von den 20 Flüchtlingen, die bei Börner lebten, gingen nur vier zum Amt, um sich für den Ausreisezeitraum, nach Abschluss ihres Verfahrens, polizeilich zu melden. Die anderen haben zwar eigentlich eine Duldung, leben aber faktisch so, als wären sie illegalisiert.

Pendeln nach Italien

Die Politik hält derweil die Füße still. Zwar haben in Berlin unter Innensenator Frank Henkel (CDU) mit den steigenden Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren auch die Abschiebezahlen zugenommen. Wurden im Jahr 2012 noch 363 Menschen gegen ihren Willen ins Ausland gebracht, stieg die Zahl erst auf 500, im vergangenen Jahr dann auf 602 Menschen. Doch der Senat ist vorsichtig, wenn es um den Oranienplatz geht oder um die Gerhart-Hauptmann-Schule, in der später viele der Aktivisten vom Oranienplatz untergebracht wurden.

Manche Flüchtlinge profitieren zudem von einem Abschiebestopp. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte legte im November 2013 fest, dass Menschen nur in ihr Ankunftsland zurückkehren müssen, wenn ihnen dort ihre Rechte persönlich garantiert werden können. In Deutschland gilt etwa ein Abschiebestopp für Griechenland, die Regel wurde kürzlich von Innenminister Thomas de Maizière für ein weiteres Jahr verlängert. In Einzelfällen hat der Europäische Gerichtshof auch eine Rückkehr nach Italien für unzulässig erklärt.

Zahlen zur Versorgung

Die Bundesländer wollen mehr Geld für die Versorgung von Flüchtlingen. Die Bundesregierung hat zwar schon zugesagt, dass die Mittel in diesem Jahr um 500 Millionen Euro erhöht werden und im kommenden Jahr noch einmal um denselben Betrag. Doch den Innenministern reicht das nicht.

Als sich Bund und Länder auf diese Aufstockung geeinigt hätten, sei man von weitaus geringeren Flüchtlingszahlen ausgegangen, als man sie jetzt habe, sagte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Roger Lewentz (SPD). Der Bund gibt den Ländern Geld für die Unterbringung und die medizinische Versorgung von Flüchtlingen. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) wies die Forderung der Bundesländer nach zusätzlichen Mitteln jedoch zurück. Man müsse sich eher darum kümmern, eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas zu erreichen. Deutschland könne nicht alles allein leisten. Auch Lewentz hatte gesagt, die Europäische Union müsse die Lasten gemeinsam tragen. Im vergangenen Jahr waren in der Europäischen Union rund 650.000 Asylanträge gestellt worden, davon entfielen etwa 200.000 auf Deutschland.

Streit zwischen Bund und Ländern gibt es auch über die Prognosen zu künftigen Flüchtlingszahlen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rechnet für dieses Jahr mit 300.000 Asylbewerbern. Die Länder schätzen die Zahl jedoch weitaus höher. Einige rechnen sogar mit 500.000 Flüchtlingen, also fast dem Doppelten.

Viele der Oranienplatz-Flüchtlinge umgehen eine Abschiebung, indem sie nach Ablauf der Duldung zwischen Italien und Deutschland pendeln – mit einem Touristenvisum, das ihnen der italienische Staat ausstellt. Auch Bashiru denkt darüber nach. Sein Freund Adewale* ist gerade erst aus Italien zurück, ich treffe ihn auf einer Parkbank im Görlitzer Park. Dort, so erzählt er, schläft er alle drei Monate mit anderen Flüchtlingen in einem billigen Hotel. Hier wohnt er heimlich bei Privatpersonen. Neben ihm sitzen andere Freunde Bashirus. Sie waren auch auf dem Oranienplatz. Jetzt „arbeiten“ sie hier, dealen mit Cannabis. Kommt ein Polizeiauto, verschwinden sie für einige Minuten mit dem Fahrrad. Die "Taskforce Görlitzer Park" versucht sie seit November 2014 aus dem Park zu vertreiben. „Wir haben gewusst, dass es nicht leicht wird, auch vor der Flucht“, sagt Adewale, der Frau und Kind in Nigeria zurückgelassen hat. „Aber man glaubt es nicht, bis man es selbst erfährt.“ Bashiru ist es vor allem unangenehm, dass er zum Überleben auf fremde Hilfe angewiesen ist. Trotzdem will er nicht nach Nigeria zurück. „Es ist überall besser als dort.“

Das Tor der Gerhart-Hauptmann-Schule ist mit einem Fahrradschloss verschlossen. Nur die Bewohner mit Wohnausweis werden hier noch hineingelassen. Damit will der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg verhindern, dass weitere Flüchtlinge einziehen. Die Schule ist die letzte Bastion des sichtbaren Protests. 40 Menschen leben noch hier. Im Februar wurden sie vom Bezirksamt aufgefordert, bis zum 19. März die Schule zu verlassen. Ein neues Flüchtlingszentrum soll hier eröffnet werden. Der 19. März kam, die Flüchtlinge blieben. Bezirkssprecher Sascha Langenbach bestätigt, die Räumungsaufforderung sei nur eine Formalie gewesen. Drei Flüchtlinge klagen vor Gericht auf ein Nutzungsrecht der Schule, bis zum Ende des Verfahrens soll nicht geräumt werden. Doch mit dem Brief, der vom Bezirksamt zugestellt wurde, versuchte der Bezirk Tatsachen zu schaffen, sagt Rechtsanwalt Ralph Monneck, der zusammen mit einem Kollegen mehrere Flüchtlinge der Gerhart-Hauptmann-Schule vertritt. Durch die Aufforderung könne der Bezirk ohne Widerspruch eine sofortige Räumung anordnen. „Und dann sind die Leute obdachlos. Wer weiß, was dann ist?“

Für den Protest ist das eine entscheidende Frage. Mit der Beendigung des Oranienplatzcamps wurden die Forderungen der Flüchtlinge nahezu unsichtbar. Doch es ging weiter. Wird jedoch die Gerhart-Hauptmann-Schule auch noch geräumt, bleibt nichts mehr von dem Protest. Was bleibt, sind die Menschen.

Dieser Text wurde aktualisiert.

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