Wenn Zelte zu Häusern werden

Obdach Ein junges Hamburger Sozialunternehmen hat sehr unterschiedliche Zielgruppen: Flüchtlinge und Festivals
Ausgabe 13/2015
Im jordanischen Flüchtlingscamp Saatari an der syrischen Grenze gibt es inzwischen sogar eine Einkaufsstraße
Im jordanischen Flüchtlingscamp Saatari an der syrischen Grenze gibt es inzwischen sogar eine Einkaufsstraße

Foto: Jeff J. Mitchell/AFP/Getty Images

Von außen sieht es aus wie ein Iglu, das Produkt „Domo“ der Firma Morethanshelters: Kuppelförmig spannt sich eine Baumwollplane über ein sechseckiges Aluminiumgestell. Der Boden besteht wie in mancher deutschen Küche aus PVC. Mit Einbauküchenromantik hat das Domo aber nichts zu tun: Was auf den ersten Blick wie ein Zelt aussieht, soll denen ein Lebensraum sein, die ihren eigenen verloren haben. Es ist die Flexibilität der modularen Bauform, die es zu etwas Besonderem macht, die Möglichkeit, es als Baustein zu Wohnungen zusammenzufügen und je nach Bedarf, Klimazone und Witterungsbedingungen umzubauen. In diesen Tagen geht das Domo in die Produktion. Im Juni will Morethanshelters die ersten Zelte nach Jordanien schicken: Nach Saatari an der Grenze zu Syrien, in eines der größten Flüchtlingslager der Welt.

Wie eine Megacity

Aus der Vogelperspektive sieht Saatari auf Karten im Internet aus wie eine Megacity. Nur durch einen Zoom in die Bilder von der Erdoberfläche werden weiße Zelte erkennbar. Sie reihen sich rasterartig aneinander, alle paar Blocks bildet sich zwischen ihnen eine Allee.

Saatari liegt im Norden Jordaniens, etwa sechs Kilometer entfernt von der syrischen Grenze. Knapp 84.000 registrierte Flüchtlinge, die dem Bürgerkrieg in Syrien entkommen sind, leben hier unter der Obhut des UN-Flüchtlingshochkommissariats. Inoffizielle Schätzungen liegen weit höher. Jordanien will in Saatari eine Wiederholung der Geschichte palästinensischer Flüchtlingslager auf seinem Territorium vermeiden, denn aus denen wurden mit den Jahren eigene Stadtteile. Das Lager der syrischen Flüchtlinge soll ein Provisorium bleiben. Ob das angesichts der Lage im Bürgerkriegsland Syrien eine realistische Hoffnung ist, ist eine andere Frage.

Es ist gerade dieser Status, der die Lage besonders prekär macht: Jordanien will nicht, dass Häuser gebaut werden, und auch die Flüchtlinge brauchen das Gefühl, dass dieser Zustand irgendwann aufhört. Aber leben müssen sie dennoch in den Lagern, und das inzwischen immer länger. In den letzten 15 Jahren hat sich die Durchschnittsaufenthaltsdauer, die Menschen weltweit in Flüchtlingslagern verbringen, laut UN auf zwölf Jahre erhöht.

Das merkt man deutlich an einem Ort wie Saatari, der immer stärker urbane Strukturen aufweist: Es gibt eine Einkaufsstraße mit dem Namen „Champs-Élysées“ und eine Art Bürgermeister. Die Menschen haben Bedürfnisse, die über die Grundsicherung ihrer Lebensbedingungen hinausgehen. Viele engagieren sich deshalb in der Unterstützung der Transformation des Lagers in einen sozialen Raum – auch wenn man ihn offiziell nicht so nennen darf.

51,2 Millionen Menschen sind zu diesem Zeitpunkt nach Statistiken der Vereinten Nationen weltweit auf der Flucht. Viele Flüchtlinge schaffen es nicht weiter als bis in angrenzende Staaten, wie die syrischen Flüchtlinge in Jordanien. Dort sind sie zwar physisch in Sicherheit, doch die Grundausstattung in den Lagern wird den sich verändernden Lebensbedingungen der Menschen nicht mehr gerecht. Die Zelte halten in der Regel nicht länger als 18 Monate und sind in der Regel 10,5 Quadratmeter groß. Das ist auf die Dauer zu klein für eine syrische Familie, der meist zwischen zehn und 25 Personen angehören.

Im letzten Jahr war der Künstler Daniel Kerber fast einmal im Monat in Saatari. Hier, wo man gerade Zelte durch Wohncontainer ersetzt, sollen bald bis zu 20 Domos aufgebaut werden – es ist das Pilotprojekt von Morethanshelters. 15 Jahre lang besuchte Kerber verschiedene Slums und Flüchtlingscamps auf der ganzen Welt, fragte sich, was ein Mensch zum Leben braucht, und verarbeitete diese Erfahrungen immer wieder in seiner künstlerischen Arbeit, die er unter anderem in Berlin und New York ausstellte. Dann gründete er 2012 mit Designern, Architekten und Betriebswirtschaftlern Morethanshelters als Sozialunternehmen in Hamburg. Das Domo ist dessen erste Entwicklung.

Es verändert sich mit den Bedürfnissen seiner Bewohner, kann in Küche, Wohn- oder Schlafzimmer unterteilt werden. Man kann es zu hausähnlichen Strukturen zusammenbauen, mit sichtgeschützten Höfen, in denen Frauen sich unverschleiert bewegen können. Länger soll es halten als heute übliche Modelle, zwischen sieben und zehn Jahre, in denen man nur die Zelthaut erneuern muss. Das ist auf Dauer billiger und logistisch effektiver für die Lager. Später soll die Zelthaut durch feste Baustoffe ersetzt werden können. Aus dem Zelt kann so eine Hütte werden.

Die Flüchtlingshilfe der UN ist abhängig von finanziellen Beiträgen der Staatengemeinschaft. Die Auftragseingänge schwanken deshalb in der Regel stark. Und so stellt die Finanzierung für Morethanshelterseine große Herausforderung dar: Die soziale Geschäftsidee braucht ein solides finanzielles Fundament. Kerber ist deshalb viel unterwegs, knüpft Kontakte, gibt Workshops in Saatari und spinnt vor allem neue Ideen für die Finanzierung des Projekts. Sie setzt sich aus einem humanitären und einem nicht humanitären Bereich zusammen, beispielsweise dem Verkauf von Zelten an Musikfestivals, Messen und Campingausrüster.

Prozess statt Produkt

So generiert das junge Unternehmen Umsätze, die dann den gemeinnützigen Verein quersubventionieren. Die soziale Dimension des Domo dient dabei als Verkaufsargument. Mit verschiedenen Festivals und Campinganbietern sei er im Gespräch, sagt Jochen Bader, der in Hamburg das Tagesgeschäft organisiert. Ein Finanzierungsmodell für die Zukunft könnten sogenannte Social Impact Bonds sein: Investoren stecken Geld in soziale Projekte. Nur wenn diese messbare Erfolge zeigen, erhalten sie ihren Einsatz plus Rendite zurück. In Deutschland gibt es die Bonds bisher nur in Pilotprojekten, etwa zur Vermittlung arbeitsloser Jugendlicher.

Jetzt gehen aber erst einmal die Domo- Zelte in Produktion. Das dänische Outdoor-Unternehmen Nordisk lässt sie für Morethanshelters in Shanghai herstellen und will dabei eine nachhaltige Produktionskette mit fairen Arbeitsbedingungen und umweltschonenden Verfahren etablieren. Einstweilen aber kommen auch Sozialunternehmer nicht daran vorbei, die Herstellung dorthin auszulagern, wo die Arbeit im globalen Vergleich günstiger und die Sozialstandards meist niedriger sind als in Europa.

Zeitgleich mit den Zelten sollen dann Mitarbeiter der Hamburger Firma in Jordanien eintreffen, um den Flüchtlingen den relativ einfachen Aufbau des Zeltes zu erklären. Erst dann wird sich zeigen, wie praktikabel die Lösung tatsächlich ist, die sich Kerber und Bader ausgedacht haben.

Vielleicht sieht das jordanische Flüchtlingscamp Saatari dann irgendwann aus wie eine Wabe. Es wird nicht einfach sein, dieses Ziel zu erreichen. „Das Domo ist kein Produkt, sondern ein Prozess“, sagt Jochen Bader. Das gilt nicht nur für die Bauart des Zeltes, sondern auch für seine politische Wirkung.

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