Es gibt nichts zu besprechen!

Wahlkampf Vor der Bundestagswahl schläft die Debatte ein. Und beim Kanzlerduell geht's wieder um die Maut. Ist denn in den letzten vier Jahren nichts passiert?

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Wahlkampf? "Unglaublich langweilig."
Wahlkampf? "Unglaublich langweilig."

Foto: Sean Gallop/AFP/Gettyimages

Es ist der späte Abend des 24.09.2017. Alle Stimmbezirke sind ausgezählt, was jeder wusste, ist jetzt amtlich: Es gibt vier weitere Jahre Merkel – ob mit FDP, FDP und Grünen oder weiter in der Großen Koalition, wen interessiert das schon wirklich? Die SPD hat mal wieder eins der schlechtesten Ergebnisse seit Bestehen der Bundesrepublik erzielt und spielt in Verzweiflung Gelassenheit vor. Schulz, Gabriel, Oppermann – die ganze Parteiführung umschifft Diskussionen über personelle oder inhaltliche Konsequenzen und verweist auf die inhaltlichen Erfolge, die die SPD in der Großen Koalition durchsetzen konnte. Muttis neuer (oder alter) Juniorpartner verhandelt eifrig, welches Prestigeprojekt er durchsetzen darf; Eine Investition in Digitales hier, ein Umweltprojekt dort, ein Sozialreförmchen da. Schnell umsetzen und back to business, bitte.

Lang lebe die Kanzlerin!

Es ist viel passiert in den letzten vier Jahren. Alte Krisen und Probleme sind geblieben oder haben sich verschärft, neue sind hinzugekommen: Krieg in der Ukraine, Libyen und Syrien, latenter Konflikt mit Russland, globale Ungleichheit und Flüchtlingsströme, Konflikt mit der Türkei, islamistischer Terror, wirtschaftlicher Notstand in Südeuropa, Klimawandel, Spaltung von Arm und Reich auch in wohlhabenden Ländern wie Deutschland, Erosion der EU durch Brexit-Votum, Unsicherheit in Bezug auf Amerika durch US-Wahl. Die Liste ließe sich ohne Probleme fortsetzen. Doch wenn man die aktuellen Umfragen zur Bundestagswahl mit den Ergebnissen von 2013 vergleicht, sind die Unterschiede erstaunlich gering. Ja, AfD und FDP werden vier, fünf Prozent mehr bekommen und die CDU liegt derzeit knapp unter statt knapp über 40%. Aber ansonsten hat sich nichts getan.

Auch der Wahlkampf ist – wohl noch mehr als der letzte – unglaublich langweilig. Bei all den großen Krisen, für die man nach zwölfjähriger Regierungsdauer im wirtschaftlich stärksten Land Europas durchaus eine Mitverantwortung trägt, beherrscht Merkel es unnachahmlich, alle Kritik ohne viel Inhalt abzuräumen. Die politische Konkurrenz insbesondere von links versäumt es, zu polarisieren und positive Utopien zu zeichnen. Das wurde ausreichend analysiert und soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Denn was wirklich verwundert ist doch, dass jeder auch in der deutschen Gesellschaft ein Brodeln spürt, das in der Form vor vier Jahren noch nicht da war. Doch während in anderen Ländern alte Parteien sich grundlegend umorientieren (Labour in Großbritannien, Trump in den USA) oder vernichtend vom Wähler abgestraft werden (Sozialisten und Republikaner in Frankreich, PvdA in den Niederlanden) und neue Parteien entstehen und gewählt werden (En Marche!, Podemos), spiegelt sich in Deutschland die veränderte gesellschaftliche Stimmung politisch nicht wider.

Es scheint, als hätten sich politische Probleme, gesellschaftliche Debatte und politisches Stimmverhalten nahezu vollständig voneinander entkoppelt. Solange es Deutschland im Vergleich zu den Nachbarn noch einigermaßen gut geht, wird es akzeptiert, dass die Politik weiter im Zombiemodus vor sich hin merkelt. Dieses Merkeln, das Taktieren bei völligem Desinteresse an inhaltlich konsistenter Politik hat längst auch Parteien jenseits der Union ergriffen. So braucht der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag wissenschaftliche Studien, um ihn daran zu erinnern, dass soziale Gerechtigkeit das richtige Thema für die SPD ist; So faselt ein grüner Ministerpräsident vom „sauberen Diesel”. Dies alles zeugt von bloßer Taktiererei ohne nennenswerte politische Prinzipien und ohne Strategie, wohin es mit dem Land gehen soll. Taktik ohne Strategie ist das Geräusch vor der Niederlage, besagt ein (wohl fälschlicherweise) Sun Tzu zugeschriebenes Zitat.

Während sich die Welt verändert, es in der Gesellschaft brodelt und die Demokratie in den Sekundenschlaf fällt, arbeiten die Merkels dieser Welt daran, die Fassade aufrechtzuerhalten, alles sei so wie immer und damit gut. Es erinnert ein wenig an den Roman „Buddenbrooks – Verfall einer Familie” von Thomas Mann, in der Senator Thomas Buddenbrook, obwohl längst klar ist, dass sein Geschäft den Bach runter geht, unter großer Anstrengung der Gesellschaft vermittelt, alles sei in bester Ordnung. Sein Sohn beobachtet: „Er sah nicht nur die sichere Liebenswürdigkeit, die sein Vater auf Alle wirken ließ, er sah auch – sah es mit einem seltsamen, quälenden Scharfblick – wie furchtbar schwer sie zu machen war, wie sein Vater nach jeder Visite wortkarger und bleicher, mit geschlossenen Augen, deren Lider sich gerötet hatten, in der Wagenecke lehnte, und mit Entsetzen im Herzen erlebte er es, daß auf der Schwelle des nächsten Hauses eine Maske über ebendieses Gesicht glitt, immer aufs Neue eine plötzliche Elasticität in die Bewegungen ebendieses ermüdeten Körpers kam… Das Auftreten, Reden, Sichbenehmen, Wirken und Handeln unter Menschen, stellte sich dem kleinen Johann nicht als ein naives, natürliches und halb unbewußtes Vertreten praktischer Interessen dar, die man mit Anderen gemein hat und gegen Andere durchsetzen will, sondern als eine Art von Selbstzweck, eine bewußte und künstliche Anstrengung, bei welcher, anstatt der aufrichtigen und einfachen inneren Beteiligung, eine furchtbar schwierige und aufreibende Virtuosität für Haltung und Rückgrat aufkommen mußte.”

Die Welt steht vor großen und neuen Herausforderungen. Die Menschen spüren das. Wir sollten uns eine Regierung geben, die ihre Energie darauf verwendet, diesen Herausforderungen mit Vision, Leidenschaft und Rückgrat begegnen, statt die Bevölkerung in einen unerholsamen Dämmerschlaf zu singen, der ein böses Erwachen nehmen wird. Leider werden wir am 24. September wohl noch weiterdösen.

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