Perspektivlos

Unwort des Jahres Der Begriff "Alternative Fakten" ist zum Unwort des Jahres gewählt worden. Zeit, sich Gedanken zu machen, über Medien, Fake News und Perspektivlosigkeit

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Foto: Arnulf Hettrich/Imago

Das Wort „perspektivlos” scheint ein reines Abstraktum zu sein, ein Wort, das nur Metapher für etwas sein kann, aber nichts ausdrückt, was ein Mensch jemals wahrnehmen oder erleben könnte. Eigentlich ist die Perspektive ja so etwas wie der Blickwinkel, ein Punkt, von dem aus man etwas wahrnimmt. Es mag möglich sein, sich vorzustellen, einen Gegenstand gleichzeitig aus zwei Perspektiven wahrzunehmen. Jeder, der schon einmal ein Ding aus kurzer Distanz betrachtet hat, wird festgestellt haben, dass man es plötzlich „doppelt” sieht. Schließt man ein Auge, springt der Gegenstand plötzlich leicht zur Seite.

Doch einen Gegenstand aus allen möglichen Perspektiven gleichzeitig wahrzunehmen, das entzieht sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen. Wollen wir Dinge wahrnehmen, sind wir zwangsläufig an unseren Standpunkt gebunden. Wer perspektivlos wahrnimmt, so scheint es, der sieht nicht alles, sondern nichts. Im allgemeinen Sprachgebrauch freilich wird das Wort perspektivlos benutzt, um auszudrücken, dass jemand keine Aussicht für die Zukunft hat. Wenn diese Person sich auf den Standpunkt ihres aktuellen Seins stellt und in die Zukunft blickt, dann sieht sie ins Nichts, es ist ein Tappen im Dunkeln.

Perspektive oder Fakten?

„Ein Kommentar, das ist also ganz klar Meinung. Aber diese Arbeit, die wir hier jeden Tag machen, die basiert nicht auf unserer Meinung, sondern auf Fakten. Darauf kann man gerade in Zeiten wie diesen nicht oft genug hinweisen.” Diesen schönen Ausspruch hat Ingo Zamperoni am 02. Januar dieses Jahres getätigt. An dem Tag feierten die Tagesthemen ihren 40. Geburtstag und erklärten in einem kurzen Segment, wie ein Tagesthemen-Kommentar entsteht. Zamperoni wollte also verdeutlichen: Meinung fließt bei uns nur in Kommentaren (oder natürlich durch die Einschätzung von Experten) in die Sendung ein, abgesehen davon sind die Tagesthemen völlig objektiv und neutral.

Diese Vorstellung aber, man könne glasklar zwischen den wahren Fakten und der Meinung der Redakteure unterscheiden, ist eine Illusion. Natürlich gibt es zahlreiche Prämissen, die der Berichterstattung der Tagesthemen zugrunde liegen und die keine Naturgesetze sind. Wäre etwa eine völlig sachliche, wertfreie und unparteiische Berichterstattung über die islamistischen Terroranschläge in Paris denkbar oder auch nur wünschenswert gewesen? Etwa eine gleichlange und gleich intensive Behandlung einerseits der Reaktionen der Opfer und der westlichen Politik wie andererseits der Begründung des Islamischen Staates? Das alles ganz ohne Pathos, ohne die Argumentation des IS auch nur implizit lächerlich zu machen und ohne irgendwie eine wertende Aussage darüber zu treffen, ob die Tat gut oder schlecht war? Nein, diese Vorstellung ist reichlich absurd. Aus guten Gründen stellen die Tagesthemen nicht abwägend die Argumentation der westlichen Welt der von Terroristen gegenüber und überlassen die Entscheidung, welche Argumentation schlüssiger ist, den Zuschauern. Völlig zu Recht beziehen sie Stellung!

Man muss nicht so drastische Beispiele wählen, um sich klarzumachen, dass die Tagesthemen keineswegs wertfrei berichten. Wird der Zuschauer etwa mit den Ansichten einer Person konfrontiert, die mit ihren Äußerungen außerhalb des politisch Gewohnten steht, dann wird diese Person im öffentlich-rechtlichen Jargon gerne als „umstritten” bezeichnet. Und so zurückhaltend dieses Wort auch daherkommen mag, es vermittelt doch klar: Hier ist Vorsicht geboten! Interviewgäste, die nicht das Label „umstritten” aufgedrückt bekommen, sprechen mit einer völlig anderen Autorität. Es gäbe zahllose weitere Beispiele, die zeigen, dass die Berichterstattung der Tagesthemen nicht wertfrei ist. Es lohnt sich auch, sich Gedanken darüber zu machen, ob eine Aussage über politische Geschehnisse, die in keinster Weise auch nur minimal bestimmte Ansichten bevorzugt, überhaupt möglich ist.

Für die ehrliche, gut argumentierte Meinung!

Dies ist aber in keinem Fall als Plädoyer für ein anything goes in der Berichterstattung zu verstehen! Natürlich gibt es relevante und irrelevante Themen, starke und schwache Argumente, gute und schlechte Berichte. Ingo Zamperoni deutet es selbst an. „Darauf kann man gerade in Zeiten wie diesen nicht oft genug hinweisen”, sagt er, und denkt dabei wohl an aktuelle Debatten um Fake News. Ich glaube, es geht bei dem Verlust an Glaubwürdigkeit, den die Massenmedien in der Wahrnehmung vieler Bürger erlitten haben, gar nicht so sehr darum, dass die Menschen sich nach unfehlbaren Fakten sehnen. Jeder weiß, dass niemand in Besitz der endgültigen Wahrheit ist. Es geht eher um den arroganten Gestus, um die Hybris, die mitschwingt, wenn jemand von sich behauptet, er spräche nur Fakten und die Wahrheit. Mit dem Beharren auf der Trennung von Fakten und Meinung machen die Tagesthemen ihre eigene Situation nur noch schlimmer.

Es ist doch erstaunlich, dass diejenigen, die am lautesten „Fake News!” rufen, ihre Informationen von Breitbart News oder Fox News empfangen – Medien, die auf Überparteilichkeit und Faktenchecks nun wirklich keinen Wert legen. Das hängt zwar auch damit zusammen, dass diese Medien ihre Empfänger nicht mit solchen Lasten wie Komplexität oder Widersprüchlichkeit beschweren. Dennoch scheint eine Sehnsucht der Menschen nach Meinung in der Berichterstattung groß zu sein – und zwar nach Meinung, die um ihre eigene Beschaffenheit weiß: Meinung die weiß, dass sie anfechtbar ist, aber eben auch Meinung, die nicht behauptet, objektiv richtig zu sein. Also, Herr Zamperoni, Frau Miosga, Herr Kleber, bringen Sie ihre Meinung ein! Setzen Sie die Themen, die Sie selbst für wichtig halten! Seien Sie kritisch hinterfragend, vernünftig, sachlich im Ton und selbstbewusst! Aber erzählen Sie uns nicht mehr, Sie wüssten, was die Wahrheit ist. Denn eine Berichterstattung, die von sich behauptet, sie sei ganz neutral und faktenbasiert, die ist nicht glaubwürdig – sie ist perspektivlos.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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