Dekonstruktion statt Classics

Live Art Festival LSD, Goa und die Niederlage über die Sonne: Unter dem Motto „Excess yourself“ verwandelt sich das Kampnagel-Gelände im Performance-Rausch zum Acid Bayreuth

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Dekonstruktion statt Classics

William Blakes „Wisdom through excess“ dient dem Hamburger Theater- und Performancefestival als Leitspruch. Der englische Poet und Künstler des 18. und 19. Jahrhunderts machte sich durch seine revolutionär modernen Lebenseinstellungen einen weltweiten Namen. Sein Zitat „The road of excess leads to the palace of wisdom. You never know what is enough until you know it is more than enough“ gilt in der Popkultur als Grundstein für den Rausch als Lebenseinstellung. Den Exzess als Haltung, als Politikum und als Methode zu sehen, ist Kerngedanke des Festivalkonzeptes. „Excess yourself“ versteht sich gleichermaßen als Motto und Attitüde, nicht als vorgegebene Themensetzung.

Excess yourself! Was für den Künstler gilt, zählt auch für den Zuschauer. Mitmachen, ausrasten, exzessiv sein. „Der Exzess wird auch vom Publikum erwartet“, sagt Nadine Jessen, die gemeinsam mit Melanie Zimmermann das Festival kuratiert. So soll der Exzess von allen Beteiligten gelebt und erlebt werden. Aktive Partizipation ist das Stichwort. Gemeinsam wird sich auf die Straße des Exzesses begeben, auf dem sowohl der Zuschauer, als auch die Künstler den persönlichen „Palast der Weisheit“ erreichen können. Exzess wir hier zur Erleuchtung: Der Zuschauer soll Schlüsse und Erkenntnisse gewinnen, die er mit nach Hause nehmen kann.

On the road of excess kommt man nicht an der Paris Hilton der Perfomance-Szene vorbei. Der queere New Yorker Performancekünstler Neil Medlyn beweist in seinen sechs Shows der „Pop Star Series“ seine Wandlungsfähigkeit. Medlyn imitiert Popstar Persönlichkeiten und kreiert aus seiner Perspektive als Außenseiter, absurde, schräg schöne Happenings. Die ­jeweils einstündigen Vorstellungen, die in Europa Premiere feiern, widmen sich je einem anderen Prominenten. Bei Namen wie Miley Cyrus, Britney Spears oder Michael Jackson, ahnt man bereits, dass der Exzess nicht ausbleiben wird.

Weitere Exzesse sind bei der postkolonialen Performance-Praxis des israelischen Wahlberliners Ariel Eshraim Ashbel und dem Ballett-Cyberpunk von Halla Ólafsdóttir und John Moström zu erwarten. Und auch die Hamburger Geheimagentur performt dieses Jahr wieder. Inspiriert vom „Essay upon Projects“ von Daniel Defoe sinniert sie über das Projektmachen. Eine Praxis, die die Künstler selbst seit elf Jahren betreiben.

Die Künstlerkollektive HGich. T. und God’s Enterntainment bilden schließlich den Abschluss. Der Zusammenschluss der exzentrischen Hamburger mit den nicht minder extrovertierten Wiener Performern führt das Publikum auf einen dreitägigen Trip der Extreme. Die futuristische Oper „Sieg über die Sonne“ wird zu einem wilden Mix aus Video, Action-Painting, Goa, Hartz-4-Poesie und Musik zur „Niederlage über die Sonne“ transformiert. Dekonstruktion statt Classics: Es entsteht ein Gegenmodell zum neuen Menschen, welches Goa als soziale Praxis versteht. Kampnagel wird zum „Acid Bayreuth“.

Wer inmitten des Theater-Raves eine Auszeit sucht, kann sich im „Refugium Avant-Garten“ zurückziehen und sich auf sein Inneres besinnen. Hinter den Kampnagel-Hallen kann man bei Lagefeuer psychoaktive Nachtschattengewächse beobachten, im Blumentopf selbst zur Pflanze werden oder dem Gras beim wachsen zuhören.

Das diesjährige Motto findet sich auch in der extremen Verdichtung des Spielplanes wieder. So wurde das Festival auf vier Tage verkürzt, was dazu führt, dass bis zu sechs Vorstellungen an einem Tag besucht werden können. Dies verschafft die Möglichkeit zum exzessiven Festivalgänger zu werden, der das Motto „You never know what is enough until you know it is more than enough“ hautnah erleben kann. Exzess wird hier zur Methode.

Seit sechs Jahren findet das „Live Art Festival“ auf Kampnagel statt. Ein skurril schönes Festival, das sich extreme Mottos setzt und sich stets mit Diskursen des Abwegigen auseinandersetzt. Als Theater-Theorie Festival verbindet es Kunst und Wissenschaft ohne festgelegte Regeln. So wurde sich im letzten Jahr mit dem queeren Theoriezweig der Human-Animal-Studies auseinandergesetzt, ein noch recht junges Forschungsfeld, das die Mensch-Tier-Interaktion zum Gegenstand hat. Gerade die Themensetzung und deren vielfältige Umsetzung, aber auch die Spielstätte selbst machen das Festival so besonders.

Kampnagel ist ein Ort für Dialoge, Kontroversen und Begegnungen, ein Ort für Subversion und Diskurse. Die aktuellen Auseinandersetzungen in Hamburg wie die rasante Stadtentwicklung, der Abriss der Esso-Häuser, der Kampf um die Rote Flora oder dem Umgang mit Flüchtlingen bilden viel Potenzial. Kampnagel greift die gegenwärtigen Stimmungen der Stadt auf, nutzt sie als Bühne, Materiallager und Forschungsfeld. Als freies Zentrum für zeitgenössische Kunst kann Kampnagel seine Bühne für neue Formate des Theaters öffnen, die für provozierende, brennende, zeitgemäße Themen dringend nötig sind. „Ich habe freie Hand bei meiner Arbeit, was alles andere als Standard in unserer Branche ist“, betont die Festivalkuratorin Jessen. Nur so kann ein Konzept wie das Live-Art Festival überhaupt entstehen, ein Festival das vom offenen Diskurs lebt.

Der Exzess wird hier zur Methode, indem durch Übertreibung und Grenzauflösung nicht nur neue Kunstformen und Verhandlungsformate ausprobiert, sondern auch erst hergestellt werden. Die Konfrontation mit dem Abseitigen, mit dem Anderen, wie beim „Live Art Festival“ gewollt, hat damit auch eine politische Dimension. Der Slogan „Wisdom through excess“ impliziert den Exzess zu erleben, sich mit ihm auseinanderzusetzen und Erkenntnisse aus ihm zu ziehen. Oft muss man den Weg der Extreme gehen, um auf Neues zu stoßen. In unserer Kontrollgesellschaft, in der Werte wie Erfolg, Vernunft und Zurückhaltung dominieren, findet der Rausch als Lebenseinstellung keinen Platz. Ein Grund mehr dem Aufruf Kampnagels zu folgen: Rastet aus, lasst euch gehen, begebt euch auf den Weg des Exzesses.

Carla Reveland

Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Studentenprojektes derMacromedia Hochschule für Medien und Kommunikation unter der Leitung von Dozentin Simone Jung. Neun StudentInnen des Studiengangs Kulturjournalismus bloggen noch bis zum 14. Juni über das Live Art Festival "Exzess Yourself" auf Kampnagel auf liveartfestival.wordpress.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MHMK Kulturjournalismus

Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (MHMK) Studiengang Kulturjournalismus, Seminarleitung Simone Jung

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