Uups, I did it again

Rezension Gesellschaftskritik getarnt als Pop-Konzert: Der queere New Yorker Performance-Künstler Neal Medlyn analysiert das Medienphänomen Britney Spears

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Foto: Jan Werum/ Neal Medlyn auf dem Live Art Festival /2014
Foto: Jan Werum/ Neal Medlyn auf dem Live Art Festival /2014

Schräge, traurige Klaviertöne erfüllen die gut besuchte Halle. Es dauert einige Sekunden, bis man die Töne als Britney Spears Song „Everytime“ identifiziert. Der New Yorker Performance-Star Neil Medlyn steht unauffällig, in ein weißes Nachthemd gekleidet, neben der Bühne. Soweit wie in Spears Videoclip zu „Everytime“ kommt es nicht (sie verübte Suizid in der Badewanne). Die Stimmung ist gleich zu Anfang auf dem Tiefpunkt, als Medlyn das Publikum auffordert an eine Zahl zwischen Eins und Zehn zu denken. „Ist es die Drei?“ Kopfschütteln im Publikum. „See y´all I am magic“ ruft Medlyn und freut sich wie eine Teenie-Göre, die zwei neue Likes auf ihr Profilbild bekommen hat.

Zwei Sekunden später schallt es wieder aus den Boxen: „It´s Britney Bitch“. Medlyn tanzt. Er tanzt grauenvoll, bewegt seine Hüften wie ein hinkendes Nasehorn und schreit Dinge aus sich heraus wie: „Whats up Sacramento, my pussy is hanging out, I am scared, rock out with your cocks out, I need more beer“. Die Situation ist verwirrend, doch abermals lässt Medlyn dem Publikum keine Chance nachzudenken, denn er liegt schon, nur mit einem Candy- String bekleidet, auf dem Boden und zankt mit dem ebenfalls auf der Bühne befindlichen Kameramann. Der String reißt. Zuckerperlen rollen geräuschvoll über den schwarzen Bühnenboden. Medlyn rafft sich auf, doch anstatt sich zu erheben, zeigt er dem Publikum mit gespreizten Beinen seine Kronjuwelen, bevor er dann galant aufsteht. Fremdscham ist in den Gesichtern der Zuschauer abzulesen. „I can´t remember what I did last night“, ruft er und erzählt im nächsten Moment eine biblisch wirkende Geschichte über einen Bär. Plötzlich ist der Kameramann zum Bär transformiert. Er wird im weiteren Verlauf sein Pendant sein. Sie kitzeln sich. Medlyn greift zum Mikro und singt von „hot ice“ und „cold fire“. Anschließend kämpfen die beiden. Nach dem Kampf gibt der Bär Medlyn ein Bonbon. Schwere Traurigkeit überkommt Medlyn. Mit gesenktem Kopf und leeren Augen steht er im warmen Scheinwerferlicht. Er wirkt abwesend. Es kommt erneut zur Rangelei. Sie wälzen sich wie sechsjährige und berühren jede ihrer Körperregion.

Der New Yorker Performer Medlyn, der auch als “Paris Hilton der Performance-Szene” bezeichnet wird, widmet sich in seinen insgesamt sechs Shows auf dem Live-Art-Festival mit absoluter Hingabe dem Pop und seinen Phänomen. Er singt, mehr oder weniger gut, aber emotionalisierend, ist bis auf ein Unterhemd und knapper Hose meist nackt und tanzt beseelt querfeldein über die Bühne. Ein Hochgewachsener knapp vierzigjährier, der mit seinem etwas schütternem Haar und leichtem Bauchansatz nicht den amerikanischen Schönheitsidealen entspricht und auch nicht den medialen Ansprüchen eines Popstars: Sexy und schön. Zwischen Konzert und Theater, zwischen Pop und Performance lebt er auf der Bühne das Thema des Festivals aus: Exzess, Grenzüberschreitung, Fiktion.

Das wird auch an der nächsten Szene deutlich: Eine weitere Person tritt plötzlich ins Scheinwerferlicht. Sie trägt eine Hannah-Montanna-Kappe (Synonym für Popstar Miley Cyrus) und liest den beiden einen Schwur über sexuelle Enthaltsamkeit vor, wie ihn viele amerikanische Mädchen unterzeichnen. Oftmals wird ihnen im Vorfeld erzählt, dass Kondome wie Roulette sind und Tränen AIDS übertragen. Die beiden legen den Eid der sexuellen Abstinenz ab, um im nächsten Satz das Publikum auf eine Kuschelparty auf die Bühne zu bitten. Partizipation ist erwünscht. Nach einer gefühlten Ewigkeit trauen sich drei Frauen auf die Bühne. Medlyn und der Bär (der sich mittlerweile in ein Baby verwandelt hat) füttern sie mit Süßigkeiten, während die beiden Performer jeweils eine Geschichte erzählen. Während Medlyns Geschichte abermals hochmoralisch ist, erscheint die kurze Anekdote des Babys als genau das Gegenteil: Eine Geschichte über einen betrunkenen Mann und dessen Geschlechtsteil. Medlyn schickt das Baby erbost weg und ruft flehend nach purer Milch. Er singt „cry me a river“. Das Baby betritt erneut die Bühne. Medlyn stürzt sich auf es und ersticht es. Der Säugling zerfetzt wie eine Piñata; Bonbons fliegen durch die Gegend. Nach dem Mord schreit Medlyn erneut verzweifelt nach reiner Milch. Er ist am Ende seiner Kräfte. Seine Zeit scheint abgelaufen zu sein. Er schluckt einen der Bonbons. Keine drei Sekunden später lechzt er nach Sex und setzt zum finalen Akt an. Er singt Britneys Erfolgssong „Baby One More Time“ und tanzt dieselben schaurigen Tanzschritte wie Spears auf den MTV Music Award 2007. Medlyn schaut ins Publikum und und ruft in dessen Richtung „Y´all see I am magic“, verlässt die Bühne und hinterlässt ein verunsichertes fast ratloses Publikum, das erst nach einigen langen Sekunden zu klatschen beginnt.

Neil Medlyn ist nicht umsonst ein preisgekrönter Künstler. Mit dem vierten Teil seiner Pop Star Series gelingt es ihm den Weltstar Britney Spears in all ihren Facetten perfekt abzubilden. Spears wird von Medlyn als eine schizophrene Person mit vielen Identitäten dargestellt, die ähnlich wie Goethes Faust zwei Herzen in der Brust trägt. Zum einen der Bär und zum anderen die Bibelgeschichten-Erzählerin. Der verführerische Popstar und die brave Schülerin. Immer wieder verführt der Bär beziehungsweise das Baby die brave Spears mit berauschenden Bonbons und verleitet sie zu Eskapaden, an die sich die enthaltsame Spears später nicht mehr erinnern will. Solche symbolisierenden Szenen wiederholen sich immer und immer wieder, schaffen eine Rhythmus im Stück. So ist es Medlyn gelungen, einen roten Faden erkennen zu lassen, der Spears langsam aber sicher von einem prüden Vorstadtmädchen zu einer sexhungrigen, wilden Partymaus transformiert. Schade ist lediglich, dass dieser nur für Britney Spears-Kenner zu sehen ist und viele der Zuschauer, während des Stücks, ratlos und gähnend dreinschauen. Sie verstehen die immer wiederkehrende Kritik des Performers an der schizophren wirkenden Spears nicht, die nicht nur für die Identitätskrisen eines medialisierten Popstars steht, sondern auch metaphorisch für Medlyns gespaltenes Heimatland (USA) stehen könnte. Ein Land, das immer wieder mit Schwarz/Weiß, Arm/Reich, Gläubig/ungläubig Konflikten zu kämpfen hat und sich dabei oftmals ziemlich widersprüchlich verhält. Ähnlich wie bei Britney geht es auch für die Weltmacht USA in den letzten Jahren bergab. Republikaner und Demokraten behindern sich gegenseitig im Kongress. Die Staatsverschuldung steigt. Immer mehr Experten sehen insbesondere China als neue Wirtschaftsmacht. Auch Britney Spears klammert an alten Positionen, doch hat sie ihren Platz schon lange an die exhibitionistisch grelle Miley Cyrus aus Nashville Tennessee verloren. Die wissenden Zuschauer haben sichtlich Spaß an der Show, feiern Medlyn und dessen schräge Tanzeinlagen. Dem Performer selbst ist es egal, welche Botschaft der Zuschauer mit Nachhause nimmt, versichert er. Er möchte keine vorgegebene Botschaft transportieren. Das tut er auch nicht, aber er zeigt mit dem Finger auf die Problematik der Medialisierung, auf die Problematik seines Landes,- erkennbar nur für reflektierte, eingefleischte Britney-Fans.

Jan Werum


Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Studentenprojektes derMacromedia Hochschule für Medien und Kommunikation unter der Leitung von Dozentin Simone Jung. Neun StudentInnen des Studiengangs Kulturjournalismus bloggen noch bis zum 14. Juni über das Live Art Festival "Exzess Yourself" auf Kampnagel auf liveartfestival.wordpress.com.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MHMK Kulturjournalismus

Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (MHMK) Studiengang Kulturjournalismus, Seminarleitung Simone Jung

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