Wenn Menschen mit Bäumen kuscheln

Ritual Zwischen Regeneration und Exzess: Erholen kann man sich beim Live-Art-Festival im „Refugium Avant-Garten". Hubertus J. Schwarz spricht mit einer der MacherInnen

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Ekstase und Chaos regieren auf Kampnagel. Das diesjährige Live Art Festival steht unter dem Motto "Excess Yourself!". Aber wo Schatten ist, gibt es immer auch Licht. In diesem Fall bewahren die Raumkünstler des Kollektivs REFUGIUM einen Hort der Ruhe und Entspannung in dem sich die Festivalbesucher von den Strapazen erholen sollen. Hier gibt es die Möglichkeit zum Earthing, einer Pflanzenmeditation oder der Austreibung böser Dschinnis durch einen Azubi-Schamanen im Wolfspelz. Biljana Milkov erzählt von Orgoniten und Tripgängern, die mit den Bäumen kuscheln.

Ihr habt hier übernachtet, wie war’s?
Biljana: Interessant…

Was heißt das?
Es hat geregnet um acht Uhr morgens. Das war laut und das Wasser hat sich hier über dem Zelt angesammelt. Aber es ging, alles in allem.

Wie ist denn die Resonanz von den Leuten, die Euch hier im Avantgarden besuchen kommen?
Wir haben ein ganz unterschiedliches Publikum. Theatergäste, die genießen das hier total, machen Salongespräche und quatschen über Kunst. Und danach hatten wir gestern diese Goa-Menschen, das ist schon klinikummäßig. Die müssen erst einmal herunterkommen, relaxen, chillen. Die sind ganz aggressiv aufgeladen.

Wie kleine Kinder im Ferienlager.
Schlimmer, wie alkoholisierte Kinder im Ferienlager. Es ist interessant, das hier ist ja auch eine Station, wo man alle möglichen Bewusstseinszustände erfahren kann, aber es soll halt entspannt sein. Wir wollen Aggressivität abbauen, durch Pflanzen, gute Energie, die sich bei uns entwickelt und die wir eigentlich auch pflegen.

Wie macht ihr das?
Tatsächlich versuchen wir einfach positiv zu bleiben. Top gesund zu leben. Deswegen schlafen wir hier, damit wir den Ort auch wirklich aufladen. Mindestens mit unserer Anwesenheit.

Wenn man nach Hause fahren würde, dann verliert sich das Gefühl wieder.
Ja. Dann verliert sich diese Realität. Und wir wollen in Totalität hier sein. Wenn schon, denn schon.

Plant ihr diesen Raum schon lange?
Seit Februar haben wir darüber gesprochen, die Idee hat sich dann entwickelt. Nadine (Jessen, Dramaturgin auf Kampnagel und Verantwortliche für das Live Art Festival Anm. d. R.) hat ihr Konzept vorgestellt, wir habe uns dann daran angepasst.

Und wie sah das aus?
Als Refugium, als Kollektiv ist es unsere Idee Raumkunst zu machen. Wir transformieren Räume so, dass sie einen Fluchtpunkt vor dem Alltagsstress bieten. Von Nadine brauchten wir dann nur noch konkrete Information darüber, welche Art von Stress hier sein wird, welche Methoden wir benutzen dürfen, um dagegen zu wirken. Die eigentliche Frage war, wie man solch einen Raum wie hier transformieren kann, so dass er autonom wird. Wenigstens für ein paar Tage.

Wie habt ihr dieses Problem früher gelöst?
Beim Krass Festival auf Kampnagel hatten wir eine Jurte. Das war ein geschlossener Raum. Hier ist die Grenze nicht so klar. Aber genau wie die Jurte entwickelt sich das Raumgefühl allmählich, wir kontrollieren nur aus dem Backstage. Die Leute bringen eigene Energien, fühlen sich wohl und dann gestalten sie selbst. Die Besucher merken, das ist hier ein Ort, wo man anders sein kann. Es ist offen und gleichzeitig nicht offen. Es ist ein öffentlicher Raum.

Also jeder kann kommen, es ist für alle offen, aber man fühlt sich hier nicht der Öffentlichkeit ausgesetzt.
Genau! So etwas in der Art.

Was bedeutet das für die Raumgestaltung im Inneren?
Natürlich sind da alle möglichen Aspekte interessant. Bei der Jurte war es der ethnische Moment: aus der Mongolei nach Hamburg. Hier sind es die psychedelischen Pflanzen, die aber gar nicht wirklich benutzt werden. Im Grunde bauen wir die Psychodelic ab.

Ich habe von einem Drachen gehört?
Der Drache war schon da, das ist ein Erdkranz um den Garten. Es sind drei Drachen, die Nadine schon vor Längerem etabliert hat, damit wir hier die Pflanzen einordnen können, die alle natürlich legal sind. Das ist selbstverständlich. Der Drache hat diese Symbolik als Schutz gegen schlechte Geister. Er ist ein mythologisches Wesen, mal böse, mal wieder gut. Wir haben ihn transformiert einmal als Schutztier außen herum und im Zentrum um unseren Erdpool.

Was bedeutet das Zentrum für Euch?
Ihr wisst, dass das Kampnagel-Gelände eine ehemalige Kranfabrik ist. In den 50er, 60er Jahren hat man wahrscheinlich alles abgebaut und den Schrott genau hier mit Erde bedeckt, darunter noch eine Betonplatte. Und darüber liegt nun unser Erdpool. Dieses Konstrukt ähnelt einem Orgon. Das spielt auf dem Festival auch eine Rolle.

Was genau ist denn ein Orgon?
Das ist zunächst ein Patent dieses deutschen Wissenschaftlers, denn Namen müsste ich nachher noch einmal googeln (Wilhelm Reich Anm. d. R.). Er hat diese Art eines Akkumulators aus organischem und unorganischem Elementen erfunden.

Und wie funktioniert so ein Orgon?

Also zum Beispiel mit Harz, Holz auf der einen und Beton, Stein, Stahl auf der anderen Seite. Wenn man diese Materialien schichtet, erhält man ein Orgonit, das die negative Energie in seiner Umgebung säubern soll. Natürlich grenzt diese Theorie an Fantasie und es ist nie bewiesen worden, dass eine solche Mischung eine energetische Wirkung hat. Aber trotzdem erzählen uns die Leute, dass sie hier positive Energie spüren.

Das klingt sehr bioenergetisch und nach Naturheilkunde.
Die Idee ist noch nicht sichtbar, aber wir sehen die Natur hier nicht als Mutternatur. Für uns hat sie mehr etwas Erotisches, wie ein Liebhaber. Unsere Beziehung zwischen Mensch und Erde soll in diese Richtung gehen – gleich zu gleich und nicht Kind zur Mutter.

Also eine Partnerschaft?
Partnerschaft. Aber mit leichter Erotik und Liebe, denn die Natur ist ja voll von erotischen Symbolen und benimmt sich auch ziemlich erotisch. Blumen etwa sind oft Phallus- und Vagina-förmig. So wollen wir versuchen durchzusetzen, dass unsere Gäste, die sich erst mit schlechter Energie aufgeladen haben, hier in eine meditative, liebhaberische Beziehung zur Natur kommen.

Mit welchen Techniken wollt ihr die Leute wieder herunterholen?
Das ist natürlich nur ein Konzept, mit echten Menschen ist es immer ein bisschen schwieriger. Es gibt die Pflanzenmeditation. In unseren großen Blumentopf kann man sich hineinsetzen und als Pflanze meditieren. Man beginnt als Same, dann keimt man, wächst, streckt die Blätter und entwickelt sich. Eine andere Methode wäre, die Leute es einfach ausprobieren zu lassen.

Also die Leute wissen, das ist ein Ort zum Herunterkommen und müssen ihre eigenen Konzepte dafür mitbringen.
Genau. Die Idee ist, den Menschen die Möglichkeit zu geben, in diese Liebesbeziehung mit der Natur zu treten. Um es ohne Diskretion zu sagen, vielleicht nehmen sie bei den anderen Veranstaltungen irgendwelche Drogen. Drogen die das Kuscheln fördern und dann können Sie sich hier mit den Bäumen kuscheln.

Ja, man bekommt diese interessante Grenze hier mit. Drüben passiert das eine, hier das andere.
Genau. Das ist hier wie in einem Contra-Posten gemacht. Es ist eine echte Opposition – Spannung, Entspannung. Und Spannung ist natürlich ein guter Rhythmus für viele Sachen. Kunstwerke etwa, in der Liebe ist es auch interessant. Und die Liebe mit den Pflanzen gibt es ja tatsächlich als eine Art sexueller Ausdruck. Das gibt es, klar, seit es Menschen gibt. Menschen können sich mit Pflanzen befriedigen – ganz banal.

Es ist vielleicht etwas einseitig, aber es funktioniert.
Es ist einseitig, genau. Weil die Pflanzen sich nicht darauf einstimmen können, sie können nicht sagen: Ja, ich will. Naja, solche Themen haben wir halt im Kopf. Aber es geht hauptsächlich darum, die Leute zu entspannen.

Was hat es mit dem Nebel auf sich?
Ohja, der Nebel und der Wolf. Er arbeitet jeden Abend hier. Er ist Schamane, ein kleiner Azubi-Schamane (lacht). Wolf ist kein wirklicher Profi, aber er tut sein Bestes. Ja, es ist eine Art von Gestaltung eines Rituals, damit die Leute verstehen: das ist auch ein bisschen Performance. Wenn etwas los ist, funktioniert es besser, dann können die Leute das auch wirklich wahrnehmen. Der Wolf vertreibt mit dem Nebel, dem Weihrauch die bösen Geister und kleinen Dschinnis. Es hat eine visuelle Wirkung.

Und der Wolf ist auch wieder ein Machtsymbol.
Ja, er ist ein gefährliches Tier, das alles Böse austreiben kann. Und heute ist auch noch Vollmond.

Und es ist Freitag der 13. Besser hättet ihr es nicht planen können.
Ja, wir dürfen zwar nicht heulen, wegen den Nachbarn. Aber wir werden schon etwas Besonderes machen. Man erwartet natürlich, dass der Vollmond das menschliche Verhalten beeinflusst, darauf sind auch wir gespannt. Letztendlich schaffen wir hier die Bedingungen, dass etwas passieren kann.

Aber auf einem sehr komprimierten Platz.
Ja, wir wollen nicht in Konkurrenz treten, mit den starken, lauten Ereignissen der anderen Happenings. Deshalb ist bei uns alles sehr minimalistisch, auch der Wolf. Eben damit auch er den anderen Charakteren und Freaks drüben keine Konkurrenz macht.

Dann würde die Wirkung verloren gehen, wenn man versucht sich anzupassen.
Ja, dann wird es noch verwirrender.

Zu diesen anderen Freaks müssen wir jetzt leider auch. Hab vielen Dank für deine Zeit!
Ja, sehr gerne.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen eines Studentenprojektes derMacromedia Hochschule für Medien und Kommunikation unter der Leitung von Dozentin Simone Jung. Neun StudentInnen des Studiengangs Kulturjournalismus bloggen noch bis zum 14. Juni über das Live Art Festival "Exzess Yourself" auf Kampnagel auf liveartfestival.wordpress.com.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MHMK Kulturjournalismus

Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (MHMK) Studiengang Kulturjournalismus, Seminarleitung Simone Jung

MHMK Kulturjournalismus

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