Musik und Gefühl. Teil 1: Weihnachten

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Weihnachtszeit. Stellt sich nicht unweigerlich von irgendwoher ein Gefühl ein, das als schön zu empfinden und dem nachzugeben, was in der vergangenen Zeit eines Jahres vielleicht zu kurz kam oder im Bewusstsein keinen Raum fand? Gut, die Worte vom Fest der Liebe und des Gutseins sind heute nur noch schwerlich von einer Korrumpierung durch den Marketingeffekt „Weihnachten“ des Einzelhandels und der Unterhaltungsindustrie („Mein Weihnachten bei RTL“) zu unterscheiden. Und dennoch sind hierzulande einzig zu Weihnachten die Kirchen zu Gottesdienst und Messe gut gefüllt, es wird dekoriert, hier und da tatsächlich noch Kerzen angezündet. Kurz: Trotz des „Orgasmus des Kapitalismus“ (GeroSteiner) stellt sich bemerkenswert viel Tradition ein.

Ich möchte es eine unterbewußte Gefühlsseligkeit oder Gefühlssehnsucht nennen, die vielleicht nach der kindlichen Übergespanntheit und Faszination sucht oder einfach nur nach einem Idealbild greift. Nach einem Ideal, das die Ruhe verschneiter Dörfer oder kleiner Innenstädte aus Fachwerk beschwört. Auf deren Anger der bunte Weihnachtsmarkt mit Obst, Nüssen, Handwerk; vor der Kirche ein Blechbläserensemble, darinnen vielleicht ein Chorkonzert. Aus den halb zugefrorenen Fensterscheiben gelbes, warmes Licht. Die Menschen dort sind zu Hause; sie sind geeint in einem Sinne. Sie sind aufgehoben in ihrer kleinen Welt, die in dem Moment die ganze Seeligkeit symbolisiert, für die einst der Herrgott seinen eingeborenen Sohn schickte. Und eben wegen dessen Geburtstag ist es so schön. Das ist einfach klar ...

Nun, ein solch' übergemütliches Heimatgefühl, das am ehesten Teil von Kindheitsgefühlen sein wird, ist freilich nur irreales Bild von Postkarten, Plätzchendosen oder Schallplattencovern. Es ist im Grunde piefig und spießig; eine Täuschung, in der kein Mädchen mit den Schwefelhölzern vorkommt.

Und doch, behaupte ich, hat die weihnachtliche Gefühlsentrückung, bei wem sie sich denn einstellt, viel mit einem Kulturschub zu tun. Und dieser wiederum hat viel mit Musik zu tun.

Fragte man den berühmten Mann auf der Straße, was Musik sei, erhielte man, wenn überhaupt eine Antwort, wohl überwiegend "Musik ist Gefühl" zurück. Und, wer wollte das zunächst bestreiten!?

Bei aller vielleicht postulierten Verhasstheit des ewigen Weihnachtsliederrepertoires, des unsäglichen Ohrenquälers "Last Christmas" (Wham!) oder der x-ten Auflage von „Jingle Bells“, wird Musik doch gerade in der Weihnachtszeit ihrer Funktion als Erinnerungsstimulator besonders gerecht. Das Bild der friedlichen, weihnachtlichen Stadt – ich erinnere an oben – ergänzt sich wiederum durch den Klang getragener Sextakkordketten von Blechbläsern und das Oratorium eines Schütz, Bach oder Haydn im Kirchenschiff.

Ob es nun ein gewollter Kulturschub ist, der einem Irgendwie-Gefühl zu Weihnachten nachgibt, oder das Mehr an Musik einfach mitgenommen wird: Gehört wird. So wie am 24. Dezember plötzlich die Kirchen voll sind, sind bereits im Advent Weihnachtskonzerte gut besucht. Frappierend ist, dass sich dabei nicht nur der Kreis der Veranstalter sowie der des Vertriebes von Konzertkarten (darunter z.B. große Vermieter) merklich erweitert, sondern – logische Folge ? – auch der der Zuhörer. Ins Konzert geht nun auch, wer das sonst eigentlich nicht tut. Nicht zu widersprechen ist hier also der Funktion der Musik als Kulturanstifter. Das mag trivial klingen, ist es aber vielleicht weniger, wenn man sich die aggregierende Wirkung von Musik eben genau zu dieser Zeit des Jahres vor Augen führt.

Zunächst ist Weihnachten, zusammen mit Ostern, der wichtigste Termin des kirchlichen Kalenders. So wie die dazu gefeierte Messe nur für diese Tage gültige Lesungen und Gebete vorsieht, hat sie auch ihre exklusiven Propriumsgesänge. Diese sind freilich nur in sehr weiter Übersetzung als Weihnachtslieder zu verstehen. Die Bedeutung einer kultischen Handlung für das Volk – Liturgie, was so viel wie „Volkswerk“ heißt – hat schon sehr früh ihre eigentliche Bedeutung als solche verloren. Zuerst war es wohl die aus der Reformation hervorgehende Evangelische Kirche, welche die streng hierarchische und volksferne Priesterliturgie der Katholischen Kirche mit mehr Volksnähe zu ersetzen suchte. Die einer spezialisierten Sänger-Schola vorbehaltenen liturgischen Gesänge fanden dort Substitute im Kirchenlied, welches in Worten und musikalischem Duktus der lutherischen Volkssprachlichkeit gerecht wurde. Das protestantische Kirchenlied bildete vielfach die Folie für Volkslieder bzw. stand in Wechselwirkung mit dem Volksidiom. Somit führt dahin auch die Spur des Weihnachtsliedes.

Und die Kunstmusik der Komponisten? Komponisten, wie wir sie heute verstehen, kennt die Geschichte erst seit dem späten, wirklich späten, Mittelalter. Dabei vermittelten sie von Anbeginn zwischen der geistlichen und der weltlichen Sphäre. Diese Künstler waren es, welche in der Konsequenz die liturgische Feiermusik aus dem Kirchenraum, ihrem eigentlichen Raum, entführten. Heute kennt man „Messen“ von Mozart bis Stravinsky, Magnificate oder Oratorien verschiedener Komponisten vom Barock bis ins 20. Jahrhundert. Diese erklingen in der Kirche wie im Konzertsaal und freilich nicht zuletzt via Radio oder Ton- und Datenträger in Wohnungen, Autos oder auch, ganz privat, aus dem Kopfhörer.

Einer einstmals der Kulthandlung verpflichteten Musik entlehnten sich nach und nach neue Gattungen, die Konzertformen annahmen und, über den „Umweg“ der Adelspaläste, schließlich als Ahnungen einst heiliger Handlungen verbürgerlichtes musikalisches Repertoire wurden.

Der Erzählung von Christus verpflichtet erscheint nahezu die gesamte Kulturgeschichte des Abendlandes. Dass sich auch immer neue Formen der Erzählung, welche den Kanon und die Regulae der Kirche hinter sich ließen – damit den Wächtern der Religion ihre alleinige Hoheit nahmen –, ihre Wege suchten, läßt schließlich erst von Kunst sprechen.

Geistliche Musik als individuell geistige Prägung eines Künstlers war schon längst gang und gäbe, als J.S. Bach sein "Weihnachtsoratorium" schuf, das heute gewissermaßen als Synonym für weihnachtliche Musik fungiert. Zunächst freilich zwingt allein der Name des Werkes jedes Mißverständnis, außen vor zu bleiben. Allein angesichts der Tatsache, dass dieses Werk alljährlich in unzähligen Kirchen und Konzertsälen unzählige Mal erklingt, kann es dem heutigen Hörer ziemlich egal sein, dass ein Oratorium ureigentlich einen Gebetsraum bezeichnet und die gleichnamige musikalische Gattung des Barock ihre Referenz im einsinnigen Gebet und Gesang tief Gläubiger sucht. Gleichsam vermittelt das Oratorium zwischen dieser Urform der Religiösität und den erzählenden Teilen der Messfeier (Episteln). Rezitativ führt ein „Evangelist“ in den Worten des Lukas und Matthäus durch die Geschichte des Advents und der Christi-Geburt. Im Wechsel dazu erklingen Arien und Chöre, welche die Gefühlslage der Menschen angesichts dieses größten Ereignisses wiedergeben sollen. Unabhängig davon, ob die Hörer des „Weihnachtsoratoriums“ religiös sind oder sich beim Hören religiöse Gefühle einstellen: Arien wieBereite dich, Zion, mitzärtlichen Trieben“ oder „Schlafe mein Liebster, genieße der Ruh'“ können in ihrer Unmittelbarkeit der Gefühlsvermittlung durchaus als Liebeslieder per se verstanden werden.

Auch wenn der Topos „Fest der Liebe“ seinen Ursprung in der Liebesbekundung zu Christus in seiner Eigenschaft als „Erlöser“ hat, heute dagegen aber nur noch schwer als nicht abgelatscht oder wiederum schlicht als Motivation zum möglichst teuren materiellen Beschenken verstanden werden mag („Weihnachten wird unter'm Baum entschieden“), erweckt der Advent und das Fest vielleicht trotzdem noch immer eine besondere Empfänglichkeit für Töne großer Ergriffenheit. Das kann freilich das Liebeslied des Oratoriums mit seiner Reminiszens an eine überirdische Liebe sein, welche Glück verspricht. Ohne sich nähere Gedanken zu machen, kann man es aber auch ganz im Sinne der Liebe zum unmittelbar Nächsten aufnehmen. Tja, und auch ein „Last christmas I gave you my heart“ bedeutet letztlich wohl nicht viel anderes als ein „Schlafe mein Liebster, genieße der Ruh'“. Besungen wird hier genauso eine Ergriffenheit, die zu einer Zeit des Jahres besonders platziert erscheint.

Gleichermaßen versammelt die Musik Menschen. Das soll jetzt weniger allein im räumlichen, sondern vielmehr im emotionalen oder geistig-metaphysischen Sinne verstanden werden. Das „Weihnachtsoratorium“ mag zwar als geistliches Werk zu bezeichnen sein, weist jedoch über einen streng liturgischen Rahmen und somit auch über den funktionellen Raum der Kirche weit hinaus. Man kann es, das gilt jetzt für Oratorien überhaupt, in seiner paraliturgischen Funktion als vermittelnd zwischen strengerer religiöser Aufgabe und unvermittelter kultureller Ansprache verstehen. Es trägt gewissermaßen einen Imperativ in sich, der durchaus auch beim areligiösen Menschen der Postmoderne eine verborgene Erinnerung an Weihnachtsgefühligkeit, und sei sie nur irgendwie und kaum näher zu bennen, zu wecken vermag.

Ganz ähnlich vereinfacht nacherzählender Prosa wird der Hörer nur episodenhaft vom „Evangelisten“ durch den biblischen Stoff geführt. Neben dem bereits angesprochenen partiellen Liebesliedcharakter, ist das Werk also durch eine stimmungs- oder spannungsverbreitende und vergleichweise lockere Erzählung gestaltet. Im Ganzen bietet sich dem Hörer eine Art konzertantes Theater dar, das, zumal vom Hörer unserer Zeit, durchaus allein als stimmungshafte Erzählung zu Weihnachten gelten kann. Es kann im speziellen ganz verschiedene Interessen ansprechen. Der eine mag allein auf die Tonkunst hören, die hier verschiedene Formen des Barock vereint, der andere sich gar animiert fühlen, mal wieder im Neuen Testament zu lesen und für einen dritten komplettiert der Hörbesuch ganz einfach eine Stimmung, die „man“ zu dieser Zeit ja irgendwie „haben muss“ und eben vielleicht auch „haben will“.

Im kleineren Maßstab mag all das freilich auch das Weihnachtslied herzustellen. Zum einen kann es Überbekanntheit sein, welche unweigerlich Erinnerungsbilder entstehen läßt, zum anderen aber vielleicht doch auch eine willkommene Erinnerung, die wenigstens so ein bisschen Gefühle der einstigen kindlichen Gespanntheit oder friedlichem Zu-Hause-Sein in einsinniger Gemeinschaft (s.o. Idealbild der weihnachtlichen Stadt) evoziert.

Klar, die Zeit des Weihnachtsliedes als anlaßbezogenes Volkslied mag lange vorbei sein. Abseits des Kindergartens oder Altenheimveranstaltungen wird es kaum noch gesungen werden. Und das Gesungen-Werden ist ja vornehmliches Signum einer Volksmusik im eigentlichen Sinne. Doch auch ihr Substitut in Form der Wiedergabe durch audiovisuelle Medien oder den Chor im Konzertsaal erfüllt noch eine Funktion. Zumindest die der Erinnerung, die im Falle des Weihnachtsliedes wohl eine besonders starke Bildlichkeit, vielleicht auch einen Geruch, zu erzeugen vermag. Erinnerungen, von denen ja irgendwie auch „Last christmas I gave you my heart“ singt ...

Diese Beschreibungen und Gedanken mögen vielleicht anachronistisch daherkommen. Dem würde ich irgendwie sogar zustimmen ...

Andererseits ist Weihnachten wohl der Termin in der westlichen und christlichen Welt, der, überblickt man die Gegenwärtigkeit religiöser Festtage regionenübergreifend, noch am stärksten in seiner eigentlichen Bedeutung spürbar ist. Gleichermaßen, oder somit, läßt Weihnachten mit seiner gesamten Ausgestaltung wohl noch am meisten Tradition und unsere, nun einmal vornehmlich christlich geprägte, Kulturgeschichte in unserer heutigen so areligiösen und eigentlich wenig Traditionen konservierenden Gesellschaft erkennen. Daher, nicht nur angesichts des Advents, erschien es mir passend, mein Thema „Musik und Gefühl“ mit Weihnachten und Musik zu eröffnen. In Planung ist ein zweiter Teil, der dann systematischer Natur sein wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

miauxx

Inhalt vor Stil!

miauxx

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