Von Bar Kochba zu Ben Gurion

REPLIK Michael Walzers partikularistische Aneignung einer universalistischen Tradition

Diese Replik bezieht sich auf den Beitrag von Michael Walzer in dieser Ausgabe:

Die politische Kultur und Tradition des Abendlandes beruhen, so eine gängige Redensart, auf der politischen Theorie Griechenland von Platon bis Aristoteles, der Systematik des römischen Rechts sowie den moralischen Intuitionen der hebräischen Bibel. In das politische Denken im engeren Sinne haben jedoch die griechischen Begriffe von ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit, politischer Teilhabe und demokratischer Freiheit weitaus stärker Eingang gefunden als die Narrative der Bibel.

In das politische Denken im engeren Sinne haben jedoch die griechischen Begriffe von ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit, politischer Teilhabe und demokratischer Freiheit weitaus stärker Eingang gefunden als die Narrative der Bibel. Das bis heute wirksame Nachdenken über Staat und Bürgerschaft, Gleichheit und Freiheit, über Polis und Republik sowie Aristokratie und Tyrannis bezieht sich nach wie vor auf die klassische Tradition.

Dies zu korrigieren und die verdeckten biblischen Wurzeln des okzidentalen Politikverständnisses wieder sichtbar zu machen, hat der in Princeton lehrende politische Denker Michael Walzer schon vor Jahren anhand einer neuen Lektüre der Exodusgeschichte und ihres Fortwirkens im revolutionären Gedanken versucht. So musste sein jetzt gemeinsam mit Menachem Lorbeerbaum und Noam Zohar konzipiertes vierbändiges, auf kommentierten Quellen aus drei Jahrtausenden beruhendes Sammelwerk The Jewish Political Tradition, dessen erster Band, der sich mit Fragen politischer Autorität auseinandersetzt, jetzt erschienen ist, große Erwartungen auf eine Erneuerung politischen Denkens wecken. Die Perspektive freilich, mit der Walzer in Potsdam sein Werk vorstellte, enttäuschte.

Nun hat Michael Walzer schon seit längerem der Tradition eines radikal negativen, kritischen Denkens, wie er es etwa in der Frankfurter Schule am Werk sah, entgegengehalten, dass nur Intellektuelle, die sich als engagierter Teil jener Gesellschaften, die sie kritisieren, verstehen, dem eigenen Anspruch gerecht werden und ihn auch wirkungsvoll einlösen können. Daraus folgt umgekehrt, dass jede Befassung mit gesellschaftlichen Missständen oder den sie erklärenden oder kritisierenden Theorien eine Verortung des Kritikers in einem ehern konkreten, partikularen Rahmen erfordern. Walzers Vorstellung seines Werks lässt nun die Grenzen dieses Postulats sichtbar werden.

An seiner in Potsdam - vor einem zum größten Teil nicht-jüdischen Publikum gehaltenen - Vorstellungsrede fällt als erstes die konsequent durchgehaltene "Wir-Perspektive" auf, mit der Walzer an ein jüdisch-ethnisches Kollektiv appelliert, das er als fraglos gegeben voraussetzt. Dieses jüdisch-ethnische Kollektiv erscheint als eine kontinuierliche historische Größe, die von den Tagen des zur Zeit Hadrians lebenden messianischen Rebellen Bar Kochba bis zum ersten Ministerpräsidenten Israels, David Ben Gurion, ja bis heute reicht. Diesem Kollektiv soll das vierbändige Werk dort, wo es zu einer seit Jahrtausenden fehlenden und ersehnten Staatlichkeit gelangt ist, alternative, reichere Wege des politischen Denkens und Handelns aufweisen, als es im politischen Alltag des Staates Israel der Fall ist.

Vor dem Hintergrund einer - wie Walzer meint - zu theokratischen und vor allem zu klientelistischen beziehungsweise privatistischen Auffassung politischen Handelns im Staat Israel sollen jene Traditionen sichtbar gemacht werden, die ein funktionales Äquivalent zur politischen Tradition der griechisch-römischen Antike und ihrer christlichen Fortbildung darstellen können. Nun mag man - wie in der Diskussion zu Walzer geschehen - bedauern, beziehungsweise in Frage stellen, ob es wirklich sinnvoll ist, die Rehabilitation einer vergessenen Tradition einer bestimmten ethnischen beziehungsweise politischen Gemeinschaft in besonderer Weise nahezulegen und damit das in dieser Tradition schlummernde, universalistische Potential zu unterschätzen. Bücher und Sammelwerke haben ihre Schicksale und es ist keineswegs ausgemacht, dass die Intention von Autoren und Herausgebern sich erfüllt - im Gegenteil, es könnte sich herausstellen, dass die Rezeption eine geradezu gegenläufige Wirkung auslöst. Dies muss der Zukunft überlassen bleiben. Gegenwärtig lässt sich nur eine über die bloß partikularistische Verengung hinaus bestehende Widersprüchlichkeit, beziehungsweise eine nicht weiter bearbeitete methodologische Schwierigkeit festhalten.

Walzers und seiner Mitstreiter lebensweltlich naives Verständnis von jüdischer Identität hat sie dazu verführt, die Frage nach dem Kriterium dessen, was nun tatsächlich "jüdisch" heißen soll, jedenfalls nicht systematisch anzugehen. Ist "jüdisches" Denken eines, das von Juden und Jüdinnen artikuliert wurde? "Ist "jüdisches" Denken jenes, das sich in selbstbewussten ethnischen Kontexten auslegte? Oder ist "jüdisches" Denken jenes, das in den kanonischen Schriften der jüdischen Religion, also der Hebräischen Bibel, der talmudischen Schriften oder rabbinischen Responsen zu lesen ist?

Indem Walzer dem jüdischen Denken zwischen Bar Kochba und Ben Gurion seine Positionierung in der Diaspora und damit seine Einzwängung zwischen die Pole Vertreibung und Erlösung vorhält, appelliert er gut aristotelisch an einen "mittleren Grund", der ein vernünftiges Verhältnis zur eigenen (souveränen) Gemeinschaft impliziert sowie Katastrophismus, Utopismus und Resignation ausschließt. Warum aber bedarf es zu dieser durchaus einsichtigen Forderung des Rückgangs auf Quellen und Traditionen, die diesen Gedanken bestenfalls minder deutlich zum Ausdruck bringen als die klassische Tradition und ihre Fortbildung? Was in aller Welt ist etwa an Theodor Herzls Judenstaatsidee, einer Entfaltung des säkularen zionistischen Gedankens, im engeren Sinne jüdisch? Was ist damit gewonnen, ein Konstrukt des neuzeitlichen Nationalstaatsgedankens, der sich doch vom politischen Denken des ja auch auf der Bibel beruhenden christlichen Abendlandes emanzipiert hat, als hervorragendes Beispiel einer jüdischen politischen Tradition einzuordnen?

Nun mag es sein, dass die etwa in den biblischen Königsbüchern enthaltene politische Theorie in nuce den Gedanken eines nicht mehr theokratischen, sondern säkularen Staates enthält - sofern man, wie in diesem Band immer wieder - alle Fragen der Historizität dieser Texte und ihrer Hermeneutik großzügig übergeht. Dann wird aber immer noch nicht deutlich, warum man sich zur Begründung einer säkularen Herrschaftsgewalt nicht genauso gut auf Traditionen des germanischen Heereskönigtums stützen könnte - außer, dass dies aus verständlichen Gründen im Staat Israel auf keine Resonanz, sondern nur auf Abwehr stoßen würde.

Indem Michael Walzer - seinem Credo vom situierten Intellektuellen gemäß - die rehabilitierte Tradition ethnisch-säkular orientiert und dabei souverän alle Fragen der Konstruktion derartiger Gemeinschaften übergeht, wird er selbst zum Mitschöpfer einer nicht nur imaginären Gemeinschaft. Diese existentielle Einbindung jedoch sagt nichts oder nur wenig über den systematischen Gehalt der präsentierten Quellen.

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