Die Lebenden und die Toten

New Orleans, magst ruhig sein Warum die Bush-Regierung so unzureichend auf "Katrina" reagierte

Lassen wir die ganze Vorgeschichte, die zu New Orleans´ Verwundbarkeit führte, beiseite. Lassen wir beiseite, dass die Warnungen vor dem Hurrikan viel zu lange ignoriert wurden. Lassen wir die in den Irak geschickte Nationalgarde beiseite.

Fragen wir zunächst nur: Warum hat man keine Anordnung an Busgesellschaften erlassen, alle Beförderungen im restlichen Süden einzuschränken und alle frei werdenden Fahrzeuge nach New Orleans und an die Mississippi-Küste zu schicken, um all die herauszuholen, die gehen wollten? Warum hat man kein Essen, kein Wasser und keine Medikamente geschickt - um diese Güter auch an diejenigen verteilen zu können, die keine Verteilungspunkte erreichen konnten? Warum hat man keine Anordnung an das Militär auf seinen Basen im gesamten Süden erlassen, sofort Truppen zu entsenden, um Menschen zu retten, sie nach draußen zu bringen, benötigten Nachschub zu verteilen und - nur ganz nebenbei - dabei zu helfen, die Ordnung aufrecht zu erhalten? Warum gab es keine Anordnung an sämtliche Hotels in den nicht von der Flut und den Stromausfällen betroffenen Gebieten, ihre Türen weit zu öffnen? Dann hätten die Busse Zehntausende von Evakuierten nicht über Hunderte oder gar Tausende von Meilen fahren müssen. Dann hätte man die Menschen nicht in riesigen Stadien zusammen gepfercht, ohne Privatsphäre, ohne Komfort, ohne Sicherheit - dann hätte man nicht noch mehr Leid erzeugt.

Was alles noch viel schlimmer macht, das ist die Logik des business as usual

Selbst wenn man die groteske Fahrlässigkeit vor dem Hurrikan bedenkt, selbst wenn man die endlose Fehlleitung von Ressourcen in einen unmoralischen Krieg bedenkt - in dem Augenblick, als Menschen sich an Dächer klammerten, als Menschen durch brusttiefe Fluten wateten, als Menschen eine glühende Sonne erduldeten, als Menschen ausgetrocknet, hungrig, ohne Kleider und ohne Medizin waren - warum taten "wir" da so wenig?

Wer ist mit diesem "wir" eigentlich gemeint? Die normalen Amerikaner waren sofort entsetzt. Besonders in den schwer heimgesuchten Gegenden versuchten Hunderttausende, sofort zu helfen. Obwohl jeder von ihnen täglich mit Medienbotschaften überschwemmt wird, die zu Selbstsucht, Habgier und Egozentrismus aufrufen. Die Mehrheit der Amerikaner hat noch immer ein schlagendes Herz. Dieses "wir", das wenig oder gar nichts tat, bezieht sich auf jene, die über genügend Mittel verfügten, um helfen zu können. Mit dem "wir" ist vor allem die Regierung gemeint. Warum handelte sie nicht schneller und energischer?

Die Antwort, die inzwischen von Stunde zu Stunde glaubhafter wird: die leidenden Menschen waren und sind schwarz und arm. Das war und ist besonders für die Reaktionen in den Medien bedeutsam, für die Shoot-to-Kill-Rhetorik, für den festen Glauben der Politiker, das Inferno von New Orleans heil überstehen zu können, wenn sie nur keinen Zweifel an ihrer Kaltschnäuzigkeit lassen. Es ist von Belang für die endlosen Demütigungen an den Zufluchtsorten, an denen Tausende hungriger, entkräfteter und zermürbter Schwarzer von den sie umgebenden Polizeikräften drangsaliert werden sowie für die Vorgeschichte des Desasters in New Orleans. Aber so zentral der Rassismus auch sein mag, er erklärt doch nicht alles.

Was die Umstände der Katastrophe noch viel schlimmer machte als von der Natur auferlegt, das war die Überzeugung der Regierung: die Logik und das Prinzip des business as usual würden durch eine Intervention im Namen der Humanität verletzt. Denn die Bush-Administration verehrt den Marktfundamentalismus jenseits aller Vernunft. Das macht sie schuldiger als eine Kerry- oder Al-Gore-Regierung je hätte schuldig sein können. Al Gore oder John Kerry hätten wenigstens das Kyoto-Protokoll unterzeichnet und der globalen Erwärmung mehr Aufmerksamkeit geschenkt und damit einem wahrscheinlichen Grund für die wachsende Härte der Hurrikane. Dennoch hätte sich die Situation nach der Flut auch unter Kerry oder Al Gore kaum anders dargestellt als jetzt. Keiner von beiden hätte Anordnungen an Busgesellschaften, Hotels oder Pharma-Unternehmen erlassen, sofort und energisch das Leiden der Menschen zu lindern. Für einen demokratischen Präsidenten ebenso wie für Bush verbieten sich Direktiven, die das private Profitstreben in Frage stellen.

Es ist eben undenkbar, dass eine Regierung Privatunternehmen vorschreibt, menschliche Bedürfnisse zu Lasten des wirtschaftlichen Gewinns zu bedienen. Dies könnte zu viele Amerikaner in die Lage versetzen, das Offensichtliche zu erkennen. Würde die Obdachlosigkeit nach einem Hurrikan durch ein aktives Handeln der Regierung gegen das alles verschlimmernde Markt-Chaos in ihren Auswirkungen gemildert - warum sollte man dann nicht der alltäglichen Obdachlosigkeit auf die gleiche Weise begegnen können? Warum sollte man dann nicht den 30 bis 40 Millionen Amerikanern, die unterhalb der Armutsgrenze leben, auf diese Weise helfen? Warum nicht den sinkenden Alphabetisierungsraten, der steigenden Armut, dem wachsenden Hunger, der versagenden Gesundheit auf diese Weise Paroli bieten? Wenn es gelingt, New Orleans nach einer Naturkatastrophe zu retten, weil eine amerikanische Regierung dem Big Business in die Parade fährt, warum rettet man dann nicht andere Städte, die von den andauernden Verwüstungen durch unternehmerische Gier heimgesucht werden? Bevor das Wasser stieg, lag der Analphabetismus in New Orleans bei 40 Prozent! Warum konnte nichts dagegen getan werden? Muss uns im Wortsinne das Wasser bis zum Hals stehen, um groteske Ungerechtigkeiten thematisieren zu können? Was wäre, wenn Menschen beginnen, solche Fragen zu stellen?

Bush Co. marschierten im Gleichschritt in eine unglaubliche Gleichgültigkeit

Schaut Bush schadenfroh auf das Leiden in New Orleans und vermehrt es sogar, wie ein psychopathischer Sadist es tun würde? Das bezweifle ich. Vielmehr sorgt sich dieser Präsident um die Gesellschaft von morgen. Bush ignoriert vorausgesagte Naturkatastrophen, aber achtet sehr genau auf mögliche soziale Katastrophen. Unternehmerische Macht unter allen Umständen zu wahren, ist Bushs raison d´être - die Unterordnung der vielen unter die wenigen sein politisches Credo des business as usual.

Das ist der Subtext von "Katrina" und New Orleans. Bush Co. marschierten im Gleichschritt in eine unglaubliche Gleichgültigkeit. Und die Presseleute des Weißen Hauses mussten versuchen, diese Gleichgültigkeit zu verkaufen. Und sie taten es, wie tollwütige Soziopathen: Hart sein - erschießt gezielt die Plünderer! polterten sie. Schießt auf die Menschen, die Essen und Wasser nehmen und es mit denen teilen, die zu alt oder zu jung sind, um selbst zu plündern! Schießt auf die Kranken, die nach Medizin suchen, um zu überleben! Schießt, schießt, schießt! Aber verteilt nicht, was gebraucht wird, Gott behüte. Verteidigt leere Geschäfte, verteidigt leere Hotels! Wer schert sich um die Lebenden, schließlich werden viele von ihnen bald tot, und der Rest wird ruhig sein.

Die "Katrina"-Schlagzeilen müssten lauten: Die Flut bricht herein und die Menschlichkeit ertrinkt!

Übersetzt von Steffen Vogel

Der Publizist Michael Albert lebt in Boston. Er ist Herausgeber der Internetplattform ZNet, Gründer des Verlages South End Press. Für weitere Analysen zu "Katrina" siehe auch: www.zmag.org.


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