"Pädophilie bringt Quote." Dieser Scherz zweier dänischer Polizisten in einer der jüngsten Folgen der international kopoduzierten Krimiserie Der Adler über ihre mediengeile oberste Chefin birgt eine Wahrheit hinter der Wahrheit. Es geht in dem Film um das perfide Spiel eines international operierenden Rings von Kinderschändern, deren Organisation das Gütesiegel von UNICEF missbraucht. Am Tag nach der Sendung zeigte der Blick auf die Quoten, dass die Fernseh-Polizisten und ihre Autoren mit der Spekulation auf großes Publikumsinteresse richtig gelegen hatten. Fast vier Millionen Menschen schauten zu später Abendstunde zu.
Man kann sich schon fragen, warum das Thema Pädophilie besonders in den skandinavischen Ländern so bevorzugt behandelt wird. Handelt es sich vielleicht um die verquere Form der Wiedereinsetzung einer Moral, wenn das einzige, was am Sex noch interessant zu sein scheint, der unheilvolle Kindersex ist? Aus weiter Ferne grüßen die sechziger Jahre, als Dänemark außer Käse vor allem Sex-Filme ins restliche Europa exportierte. Dieser Rollback ist nicht auf die skandinavischen Länder beschränkt. Auch Deutschland, seine Kinobranche und seine Fernseh-Stationen stehen mittlerweile im Bann dieser Bewegung. Die Missbrauchsthematik ist zu einem beherrschenden Thema des gesellschaftlichen wie medialen Diskurs geworden. Und scheint dabei eine Realität abzubilden, denn immer neue Horrorzahlen kommen auf den Tisch.
Allein in Berlin, so wollen Autoren recherchiert haben, gebe es 20.000 Pädophile und diese Zahl beruhe auf vorsichtigen Schätzungen. Doch gleich ob Polizisten, Jugendämter, Mediziner und Psychologen: Harte, faktisch nachweisbare Zahlen kann keiner dieser Fachleute sagen. Alle damit Befassten gehen von großen Dunkelziffern aus, sie erstellen ihre Berechnungen auf der Basis von Vermutungen: Früher waren es die bei Razzien oder Grenzkontrollen sichergestellten Schmuddel-Hefte, heute sind es die Klicks auf einschlägigen Seiten und Chatrooms im Internet. Valide Zahlen liefern allenfalls Kundenlisten oder Kreditkarten-Nummern, die nach Verhaftungen von Händlern in diesem weit verzweigten, offenbar gut organisierten Milieu sicher gestellt werden konnten. Dabei kommt es - wie unlängst geschehen - zu früher schier undenkbaren Allianzen zwischen staatlichen Ermittlern und privaten Kartenorganisationen. Kreditkartennummern werden im großen Stil zum Datenabgleich herangezogen. Alles soll im Rahmen der Legalität geschehen sein, doch so richtig genau wollen es offenbar selbst die Datenschützer nicht wissen.
Doch ein kriminalistischer Erfolg wie dieser hat eine paradoxe Wirkung: Mit jeder Nachricht von der Zerschlagung eines Kinderpornographen-Rings scheint die Angst vor dieser neuen kriminellen Seuche zu steigen. Die gute Nachricht trägt weniger zur Beruhigung denn zur Panik bei. Mit den Dunkelziffern steigt das Phantasma, das hinter jeder Ecke Misshandlung, Vergewaltigung, Missbrauch, Unzucht, mörderische Triebtat lauert. Im Jahr 2004 ließ das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) eine repräsentative Umfrage bei 2.000 Personen machen, wie sie die Entwicklung der Kriminalität in Deutschland beurteilten: Das Ergebnis zeigte eine auffällige Abweichung zwischen der gefühlten und der tatsächlichen Kriminalität. Ob Raubmord oder sexueller Kindesmissbrauch - in der Vorstellung der Deutschen sind die Zustände erheblich schrecklicher als in der Wirklichkeit.
Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen: Die Angst-Bereitschaft eines Volkes hat auch sehr reale Gründe. In einer Gesellschaft, in der nichts mehr sicher zu sein scheint und in der alles in Bewegung ist - der Job, die Familie, die Rente, die Umwelt - muss es nicht weiter verwundern, dass die Furcht zuweilen hysterische Züge annimmt. Doch diese Erklärung ändert nichts daran, dass manche Anlässe von Hysterie hausgemacht und effekthascherisch herbeigeführt sind.
Eine Ursache für diese Verzerrung von persönlicher Wahrnehmung und objektivierbaren Fakten sieht das Institut des früheren niedersächsischen Justizministers Christian Pfeiffer bei den Medien. Er ist nicht der einzige, der da so sieht. "In Deutschland werden sehr wenige Sexualmorde begangen. Es sind etwa 20 pro Jahr. Trotzdem wird fast jeder einzelne von einem Medienorchester begleitet, das den Eindruck vermittelt, die Republik sei ein Paradies für Gesetzlose, besonders für Triebtäter." So die Zeit-Gerichtsreporterin Sabine Rückert. Vertreter des klassischen Boulevard-Journalismus à la Bild und seriöse wie provinzielle Blätter bedienen den Trend gemeinsam. Und dieser macht auch vor den Fernsehsendern nicht halt. Die Fernsehsender haben ihre Berührungsängste vor diesen Themen abgelegt. In den Medien ist das Thema als aktuell entdeckt und wird dort in allen Variationen durchdekliniert, wie sich an den Filmen aus jüngster Vergangenheit und den Programmankündigungen für das laufende Jahr ablesen lässt: Von der Verfolgung eines wahren Falls bis zur fälschlichen, denunziatorischen Beschuldigung eines Täters ist dort alles zu finden. Alle diese Filme gehen auf einem schmalen Grat zwischen Informationsrecht und Emotionalisierung der Umstände dieser Tat.
Der aktuelle Journalismus, der Tag für Tag neue Themen hat, neuen Anlass für Aufmerksamkeit findet und zuweilen bis zur Hysterie schürt, ist das eine. Mindestens so entscheidend sind die fiktionalen Programme. Erst Spielfilme bieten die Chance, die tief sitzenden gesellschaftlichen Ängste gezielt anzusprechen. Wie weit das Interesse an crime stories mittlerweile reicht, zeigt schon die schier unübersehbare Vielfalt des Genres. Serien und Einzelstücke, fiktive Storys oder fiktionalisierte "wahre Geschichten", dokumentarisch oder halb-dokumentarisch aufbereitet, machen einen immer höheren Bestandteil des Gesamtprogramms aus. Das Verbrechen hat längst das Genre des Kriminalfilms verlassen. Es nistet sich ein in anderen Bereichen von Film, es stülpt sich nahezu allen Genres über. Denn es hat einen unschätzbaren Vorteil: Crime und seine detektivische Entdeckung, seine polizeiliche oder private Verfolgung, seine richterliche oder außergerichtliche Ahndung erzeugt immer Spannung und Bewegung, innere wie äußere. Diese Grundelemente, die die Angst und das Mitgefühl des Zuschauers ansprechen, lassen sich wunderbar in einfache, überschaubare dramaturgische Handlungsrezepte umsetzen. Die kriminalistische Spannungsdramaturgie ist drauf und dran, zumindest im Fernsehen, alle anderen Dramaturgien zu verdrängen. Sie wird zu einem Hybridwesen, das gefräßig Anleihen bei anderen Genres macht, ohne dabei ihren Grundcharakter zu verlieren.
Und in ihr ist die Lieblingsfigur, um nicht gleich den Ausdruck Held zu gebrauchen, der Triebtäter. Der gewaltbesessene Jugendliche, der missbrauchende Väter, der pädophile Stiefvater, der sadistische Chef, oder auch nur die Mutter, die ihre eigenen Kinder in unbegreiflicher Pflichtvergessenheit verhungern lässt - diese modernen Verbrechertypen bevölkern Büro, Schule, Familie, Nachbarschaft. Was macht den Triebtäter so attraktiv? Eine Interpretation, die sich durch Filmbeispiele seit den Tagen von Fritz Langs M - eine Stadt sucht einen Mörder belegen lässt: Der Triebtäter stellt sich durch seine Tat außerhalb des gesellschaftliche legitimierten Rahmens, man kann ihn für seine Tat verantwortlich machen, er muss mit der vollen Schärfe der gesetzlichen Sanktionen rechnen - und doch haftet seiner Tat etwas Unfassbares, Unbegreifliches an. Im Innern dieses Menschen lauert etwas Böses, dem sich mit Vernunft und Aufklärung nicht beikommen lässt. In unserer naturwissenschaftsgläubigen Zeit wird man nicht mehr von einem dunklen Fleck auf der Seele des Verbrechers sprechen, sondern einfach seine Gene für diese Veranlagung verantwortlich machen. Und diese Erklärung bietet bei aller Beunruhigung zugleich auch etwas sehr Beruhigendes. Für diese Art von Kriminalität ist die Gesellschaft nicht ursächlich haftbar zu machen, hier geschieht etwas, was außerhalb ihrer schuldhaften Verantwortung liegt.
Für den Film, der einen Triebtäter präsentiert, bietet dieses genetische Modell eines Störfalls auch einen unschätzbaren Vorteil: Verbrechen muss nicht als gesellschaftliches Phänomen dargestellt werden, das sich in einer langen Kette von Ursache und Wirkung sich erklären lässt. Der Triebtäter steht für selbst: Er repräsentiert das Böse schlechthin und als moderner Teufel wird er auch so inszeniert. Der Triebtäter ist der klassische Einzeltäter, auf den sich dramaturgisch alles Interesse, alle Abscheu oder Mitleid fokussieren lässt. Wenn es ihn nicht gäbe, er müsste erfunden werden.
Tatsächlich gibt es ihn viel zu viel und viel zu häufig. Die Inflation des Triebtäters ist untrennbar gebunden an die Faszination für den Täter. Was eine sehr deutsche Haltung ist. Mit Kracauer gesprochen standen am Anfang der deutschen Filmgeschichte Caligari und Dr. Mabuse. Die Erbschaft dieser Zeit scheint heute noch nachzuschwingen, wenn der moderne Kriminalfilm eine Täter-Kultur entfaltet und die Opfer-Gestalten nur am Rand abgehandelt werden. Allen Beteuerungen von einer neuen Opfer-Kultur zum Trotz, huldigen die Filme letztlich doch mehr dem geheimnisvollen, unglücklichen Täter als seinen Opfern.
Diese Form der Inszenierung des Täters trägt das Ihre bei zur kollektiven Paranoia eines Volkes, das sich von Verbrechen aller Art schier umzingelt fühlt. Die fernsehübliche Darstellung von Triebverbrechen, durch schluchzende Geigen und emotionale Bilder noch zusätzlich aufgeladen, bezieht ihre Wirkung aus einer explosiven dramaturgischen Verbindung: Der Kriminalfall wird im Kriminalfilm zum Melodrama. Wobei die postmoderne Errungenschaft dieses Genres darin besteht, das soziale Erklärungsmodell durch ein genetisches ersetzt zu haben. Früher scheiterten die Menschen an gesellschaftlichen Hindernissen, sie wurden aus Klassenhass zu Verbrechern. Heute scheitern sie an sich selbst, an ihren schlechten Erbanlagen. Ein sehr ambivalenter Triumph des neuzeitlichen Individualismus.
Kinder-Pornoseiten im Internet sind zu Recht in der Diskussion. Darüber wird vergessen, dass die massive Pornographisierung der Gesellschaft deutlicher wird in dem, was als harmloses Entertainment angesehen wird: Blätter wie die Bunte, Glamour oder Gala spekulieren, ob Promis unter ihren Kleidern Unterwäsche tragen. Ein Auftritt, wie ihn die isländische Popsängerin Björk bei der Verleihung der Academy Awards für die Fotografen geboten hat, würde auf einschlägigen Internet-Kinderpornoseiten wahrscheinlich als aufreizend lasziv, aufgeilend goutiert: Björk hob den Minirock ihres "entzückenden Schwanenkostüms" und legte ein Ei (in Form einer weißen Handtasche) auf den Roten Teppich. Es wurde als Spiel mit Symbolen gesehen. Die Trennlinien zwischen Spiel, Phantasma und Realität sind schmal geworden.
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