Auch als Büchermensch kann man sich eine Welt ohne Amazon kaum noch vorstellen. Wer es dennoch versucht, muss tief in die Vergangenheit blicken oder weit vorausschauen. Wer zurückblickt, sieht vielleicht einen Marktplatz, an dem zwei unabhängige Buchhandlungen in freundlicher Konkurrenz gedeihen. Die Buchpreisbindung sorgt dafür, dass keiner den anderen austrickst, und allseits gebildete Buchhändler beraten den Kunden so fein, dass keine Wünsche offen bleiben. Wir schreiben den Herbst 1997, und da unser Blick auf eine kleine Stadt in der Eifel gefallen ist, kriegt keiner mit, dass im Norden der Republik eine Buchhandlung gerade zur Kette mutiert ist: Thalia. Es ist wirklich ein goldener Herbst, denn man kann erst recht noch nicht wissen, dass sich eine Website namens „telebuch.de“ ein Jahr später in „amazon.de“ umbenennen wird.
14 Jahre später existiert nur noch eine der beiden Buchhandlungen, und die verkauft Bestseller, Krimis sowie ein paar Reiseführer, ansonsten gibt es „non-books“. Aber auch Thalia geht es nicht besser, die Filiale im nahen Trier soll geschlossen werden, die Umsätze sinken bundesweit, und es gilt das Wort von Henning Kreke, dem Chef der Douglas-Gruppe, zu der Thalia gehört: „Amazon ist das Maß aller Dinge“.
Das ist die Parole der Stunde. Jeder sagt es: Verleger, Händler, Käufer, Kritiker. Dabei ist es ja nicht so, dass Amazon den deutschen Buchmarkt komplett beherrscht, sondern bisher „nur“ rund 20 Prozent. Aber Amazon meint eben mehr als Zahlen. Amazon ist ein Symbol. Ein negatives für den, der zurückblickt. Für Roland Reuß zum Beispiel. Der Heidelberger Germanist und Editionswissenschaftler feuert in diesen Tagen aus allen publizistischen Rohren gegen Amazon und ist so etwas wie der personifizierte gebildete Widerstand gegen den vulgären Online-Händler. Er hat den Giganten sogar wegen Hehlerei verklagt.
Keine Abnutzungsspuren
Das heimliche Ziel von Amazon sei es, die Buchpreisbindung zu kippen, warnte Reuß in der FAZ. In Deutschland muss ein neues, in Deutschland verlegtes Buch überall gleich viel kosten. Ein simples Gesetz, das sich positiv auf Zahl und Sortiment der Buchhandlungen auswirkt und die Verlage zur Querfinanzierung anspruchsvoller Titel animiert. Wir verdanken der Preisbindung unsere reiche Buchkultur. Diese Bindung heble Amazon durch seine antiquarischen „Webshops“ schleichend aus, sagt Reuß; „wie neue“ und gelegentlich brandneue Bücher konkurrieren dort mit Neuerscheinungen. Wer etwa den gerade erschienenen Schirrmacher will, kann sich zwischen einem Exemplar zum Festpreis von 19,99 Euro entscheiden und einem für 16,49 Euro: „Gebraucht – Wie neu in Schutzfolie – Privatverkauf.“ Man muss schon sehr naiv sein, wenn man bei diesem Exemplar Abnutzungsspuren vermutet.
Außerdem beherrscht Amazon den Handel mit den klassischen antiquarischen Büchern. Das ZVAB, das Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher, gehört ebenfalls der Krake, aber wer weiß das schon. Und als wäre das nicht genug, nimmt Amazon den guten alten Buchmarkt auch von der anderen Seite in die Zange: iTunes und Amazon mit seinem Kindle beherrschen den E-Book-Markt.
Reuß nennt E-Reader „killing machines“. Aber auch moderate Stimmen warnen. Durch die EU-Kartellbehörde sei die Preisbindung für elektronische Bücher faktisch aufgehoben, meint Helge Malchow im Spiegel. Der Verleger spricht vom Ende des „Buchhandels, wie wir ihn heute kennen“. Dennoch kooperiert sein KiWi-Verlag wie fast alle anderen weiter mit Amazon. Nur zwei kleinere deutsche Verlage haben im Gefolge der aktuellen Kritik an Amazon ihre Zusammenarbeit beendet, weil sie die hohen Rabatte satthaben. Zu einem Aufstand dürfte es also nicht kommen.
Das gilt auch für das Gros der Konsumenten: Man schätzt zunehmend die Vorteile des digitalen Buchmarkts, wenngleich oft mit schlechtem Gewissen. Der Kunde muss sich entscheiden, das sagt auch Reuß. Wer seinen Buchladen um die Ecke weiter will, muss eben seine Bücher auch dort kaufen. Das ist eine bewusste Entscheidung. Unter den guten Argumenten für das Buch zielt ein besonders starkes gar nicht auf das Medium selbst, sondern auf seine Bedeutung für den öffentlichen Raum: Wer ins Kino geht, obwohl er den Film streamen könnte, will ein Kino in seinem Lebensumfeld; wer sein Kleid in der Boutique kauft und nicht bei einem Online-Anbieter, will eine Boutique in seiner Nähe; und wer Buchläden um die Ecke will, will auch, dass die kleinen und die großen Städte nicht noch mehr veröden. Man will am Reichtum der digitalen Welt partizipieren, ohne dass die reale Welt verliert. Aber geht diese Rechnung wirklich auf?
Die Riesenmaschine
Jedenfalls hilft es nicht, diesen Reichtum kleinzureden. In seinem Feldzug gegen Amazon hat Roland Reuß auch den Kundenservice dieses „Luxemburger Steuerumgehungskonzerns“ verspottet, namentlich die neuen Sonderkonditionen für Studenten. Es ist nicht besonders klug, sich über einen guten Kundenservice lustig zu machen. Und Amazon tut alles, um diesen Service zu optimieren.
Franz P. kann ein Lied davon singen. P. ist Antiquar in einer westdeutschen Großstadt. 1997, siehe oben, hat er noch ein Antiquariat betrieben, das er im Jahr 2001 geschlossen hat. Eine Weile ist er mit seinen Bücherkisten auf Flohmärkten gestanden, dann hat er sein Geschäft komplett ins Internet verlagert. Zuerst auf diverse Plattformen (abebooks, booklooker und ZVAB), seit ein paar Jahren handelt er ausschließlich auf Amazon. Seine Geschichte mutet wie eine Allegorie auf den Medienwandel an. In Deutschland gibt es vielleicht ein paar hundert Händler wie er, die meisten fahren doppelgleisig und haben noch einen Laden, aber auch für sie dürfte Amazon das „optimale Konzept“ darstellen.
Dafür nehmen sie hohe Provisionen in Kauf. Denn natürlich ist Amazon nicht nur eine elegante Maschine, sondern auch eine kapitalistische. Und auch eine etwas gespenstische: Es gibt dort keine Ansprechpartner, keine Sprecher. Aber das Ganze funktioniert und zwingt die Händler in den Dienst der Kunden, zum Beispiel wird Franz P. sanktioniert, wenn er eine Kundenmail nicht binnen 24 Stunden bearbeitet. Amazon versucht auch immer wieder, die Händler zu überzeugen, ihre Bücher in ein Zentrallager zu übergeben. P würde dann den letzten Rest an Weltbezug in seinem Handel verlieren: Die flüchtige Begegnung am Postschalter und im Hermes-Shop. Aber P. klagt nicht. Er ist ein „digital immigrant“ und in seinen Idealen über Amazon hinaus. Die radikale Alternative zum bestehenden Buchmarkt ist ja nicht das günstigere Exemplar beim Monopolisten, es ist das kostenlose aus den Tiefen des World Wide Web.
Weltangst der Buchhändler
P. ist Buchverkäufer, aber er ist auch ein Literaturliebhaber. Er findet „Spiegelbest“ interessant, wenngleich ambivalent. Spiegelbest ist ein Buchpirat und so etwas wie der vermummte Gegenspieler von Roland Reuß. Spiegelbest bewundert Amazon dafür, dass dort die Digitalisierung des Buchmarkts früh erkannt wurde. Für die Welt, die Roland Reuß bewahren will, hat er nur Spott übrig. Er ächzt über die „Weltangst der Buchhändler“ und höhnt, dass gerade die kleinen Buchläden die Entwicklungen verschlafen haben: „Die Händler hätten zusammen mit ihren Kunden das digitale Lesen entdecken sollen. Jetzt ist es vermutlich zu spät.“
Vielleicht auch nicht. Jedenfalls sollte sich der „Kunde“ seiner Möglichkeiten bewusst sein und sich dazu verhalten. Eine Umfrage der Uni Hamburg unter den Lesern von E-Books hat ergeben, dass 34 Prozent solche Books von „Freunden“ beziehen. „Ob persönlich bekannt oder legal ist dabei fraglich“, heißt es dazu eher rhetorisch. Man kann den neuen Schirrmacher im Web ja nicht nur kostengünstiger haben, es gibt ihn sogar umsonst. Spiegelbest zum Beispiel bietet ihn mit rund 23.000 anderen Titeln an. Sein illegales Treiben kommentiert der in einem Blog, aus dem er auch ein Buch gemacht hat, das auf Amazon als E-Book zum symbolischen Preis angeboten wird. Mittlerweile hat Amazon den Verkauf des Buches gestoppt, der Blog wurde von Google vom Netz genommen.
Es ist nicht leicht, sich zu diesen Dingen zu verhalten. Jeder, der illegal ein E-Book bezieht, schadet ja nicht nur dem Buchhandel und dem Giganten, sondern auch dem Autor. Andererseits will ein Buch nicht nur verkauft, sondern auch gelesen werden. Es ist doch immer das gleiche: Im Netz kann man leicht idealistisch und egoistisch zugleich handeln. Die Lösung wäre vermutlich eine Kulturflatrate. Aber auch sie ersetzte nicht den Buchladen, und auch sie würde Amazon wohl nicht zum Verschwinden bringen.
AUSGABE
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 9/13 vom 28.02.20013
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.