Ein Buch mit dem Titel Nachdenken über das 20. Jahrhundert kann man leicht als Anachronismus abtun, es scheint aus einer Zeit zu stammen, in der Bücher wie Der Verrat im 20. Jahrhundert“ geschrieben wurden, mitten in jenem uralten Jahrhundert also. Es steht ferner zu befürchten, dass ein solches Nachdenken Bögen schlägt, die viel zu groß sind, um einen Leser klüger zu machen; ein Buch über Geschichte, mit anderen Worten, das zu sehr nach Helmut Schmidt und zu wenig nach Wolfgang Schivelbusch klingt.
Wäre sein Autor also nicht der 2010 verstorbene britische Großhistoriker Tony Judt, man würde es wohl links liegen lassen. Judt stand zwar immer ein wenig im Schatten der noch größeren britischen Großhistoriker Timothy Garton Ash und Eric Hobsbawm, er weckte aber die Neugierde einer breiten Öffentlichkeit durch seine scharfe Kritik an Israel und am US-amerikanischen Einmarsch im Irak nach 9/11. Wer, wie ich, in Büchern zuerst das Nachwort liest, stößt auf die dramatischen Umstände der Entstehung dieses Werks, das ab 2008 in Gesprächen mit seinem Kollegen Timothy Snyder zustande kam; kurz zuvor hatte Judt erfahren, dass er an einer schweren Nervenlähmung erkrankt war, an der er drei Jahre später sterben sollte. Wenige Wochen vor seinem Tod konnte er das Manuskript abschließen. Das Buch hat die Form eines langen Gesprächs bewahrt, in dem die Rollen klar verteilt sind, der jüngere Historiker befragt den älteren. Der Verlag spricht von einem „Vermächtnis“.
Kritik am Kommunismus
Nicht, dass der Eindruck des Unzeitgemäßen nach dem Lesen der gut 400 Seiten zerstreut wäre. Aber man versteht nun, was auf dem Spiel steht und vielleicht schon als Verlust verbucht werden muss. Das 20. Jahrhundert, das Judt zeichnet, ist nicht nur ein „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm), es ist vor allem ein Zeitalter der Ideologien. Es sind Ideen, die den Lauf der Geschichte geprägt haben, und weil diese Ideen in Büchern zirkulierten, sind sie es, die Geschichte gemacht haben. Das geht schon aus seiner Dissertation hervor, die sich mit den französischen Sozialisten der zwanziger Jahre beschäftigte und deren „verbindende Bezugspunkte nicht nur aus einem gemeinsamen Ziel erwuchsen, sondern auch aus umfangreicher Lektüre“.
Das 20. Jahrhundert entspringt hier also weder den Bewegungen der Massen noch den Beharrungsmächten der Institutionen, sondern den Köpfen der Intellektuellen, und wenn Judt sich an Margaret Thatcher abarbeitet, betont er, dass sie zwar keine Intellektuelle war, sich aber von ihnen beraten ließ, namentlich vom Vater des Neoliberalismus, Friedrich August von Hayek.
Und noch etwas prägt dieses Buch: Tony Judt führt Historie und Individualgeschichte eng. Geboren wurde er 1948 im Londoner Eastend als Sohn jüdischer Eltern mit Wurzeln in Osteuropa. Tony hieß er nach einer Cousine, die in Auschwitz vergast wurde. „Ich wuchs also in der Welt auf, die Hitler uns hinterlassen hatte. (...) Ich wuchs heran und las und wurde Historiker und wohl so etwas wie ein Intellektueller.“ Noch bevor er in Cambridge studierte, wurde ihm der Marxismus von seinem Vater nahegebracht, als Jugendlicher las er eine gekürzte Fassung des Kapitals, aber auch Sonnenfinsternis, Arthur Koestlers Abrechnung mit dem Terror der Stalin-Zeit.
Judts Vater war indessen davon überzeugt, dass der Sowjetkommunismus nichts mit dem Marxismus zu tun habe; wie geläufig es war, den wahren Kommunismus von einem vermeintlichen zu unterscheiden, erfuhr Tony Judt noch, als er Ende der siebziger Jahre in Berkeley wider Willen Sozialgeschichte lehrte, die Studenten von ihm aber alles über Trotzki wissen wollten. Judt kritisiert am Kommunismus, dass er im Namen einer besseren Zukunft die größten Verbrechen entschuldigt, sie sogar als notwendig erscheinen lässt. Der Kommunismus als Heilsgeschichte, das ist nicht gerade originell, aber Judt will als Historiker auch gar nicht originell sein, sondern wahrhaftig.
Was bleibt, die Sozialdemokratie
Wer einer Ideologie aus einer Erfahrung heraus abschwört, gilt als besonders glaubhaft, dennoch zögert man, Judt einen Renegaten zu nennen, dazu fehlt ihm das Eiferische, aber auch die leibhaftige Erfahrung. Aus nächster Nähe erlebte er dann die Studentenrevolte in Paris, aber ein 68er wurde er ebenso wenig wie ein Anti-68er. Er wurde auch kein Zionist, obwohl er als Jugendlicher begeistert in einem Kibbuz gearbeitet hatte, und er wurde natürlich erst recht kein Rechter, obwohl er sie für die oft geistreicheren Schriftsteller hält. Was bleibt: die Sozialdemokratie. In ihrem Geist forderte er eine neue Moral, einen neuen Gerechtigkeitssinn (siehe wwalkie: „Welfare statt Illfare. Das Vermächtnis Tony Judts“ auf freitag.de)
Hinzu kam früh schon eine Begeisterung für Osteuropa, die durch akademische und amouröse Bekanntschaften geweckt wurde, aber es ist für ihn nicht das geringste Motiv, dass der Vater aus Warschau stammte und er hier eine Lebenslinie durchs Jahrhundert weiterziehen konnte. Tony Judt interessierte sich für Polen und die Tschechoslowakei zu einer Zeit, als das nicht en vogue war. Past Imperfect, sein Buch über die verwunderliche Sowjetfreundlichkeit der französischen Linken, war gleichsam aus der Sicht eines Charta-77-Sympathisanten geschrieben. Es kam nicht sehr gut an.
Einmal mehr wurde Tony Judt in die Rolle des Außenseiters gedrängt, eine Rolle, die er offenkundig ganz gerne einnahm und sich dabei in bester Gesellschaft fühlte. Er sah es als seine Aufgabe, die „unsichtbare Geschichte“ dieser Außenseiter ans Licht zu heben. Evident, dass sein Judentum dabei eine Rolle spielte, seine rabiate Kritik an Israel, die bis zum Vorwurf geht, der Staat würde den Holocaust gegen seine Kritiker instrumentalisieren, machte ihn hier sogar zum doppelten Außenseiter; aber Außenseiter konnten in seinen Augen sogar Staatsmänner und -frauen wie Thatcher oder Winston Churchill sein.
Auch diese Emphase für den Außenseiter macht das Buch zu einem des 20. Jahrhunderts. Aber das Gespräch geht ja weiter. Tony Judt berichtet, wie er in einem Wiener Taxi sitzt und im Radio die Nachricht vom Sturz Ceauşescus hört; das letzte Drama in einer Kette von Dramen. Was bedeuten sie für das Nachkriegseuropa? „Ich dachte sofort, dass man ein Buch darüber schreiben müsse.“ – Damit ist er im 21. Jahrhundert angekommen, das vermutlich eher als das Zeitalter der Medien denn als das Zeitalter der Erfahrung in die Geschichte eingehen wird. Man ist versucht zu sagen: Leider.
Nachdenken über das 20. Jahrhundert Tony Judt, Timothy Snyder Matthias Fienbork (Übers.), Carl Hanser Verlag 2013, 416 S., 24,90 €
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