Auf Pferde wetten, die niemals laufen

Buchmesse Der britische Politologe Colin Crouch schlägt den Neoliberalismus auf seinem eigenen Feld, und wir schauen gebannt zu

Es gibt Bücher, die eine gesellschaftliche Großwetterlage so auf den Punkt bringen, dass sie ganze Bibliotheken überflüssig machen; Die Dialektik der Aufklärung, Alexander Mitscherlichs Die Unwirtlichkeit unserer Städte oder Ulrich Becks Risikogesellschaft sind solche Bücher. Mit seinem vielbeachteten Essay Postdemokratie schrammte der britische Politologe Colin Crouch vor ein paar Jahren knapp an einem weiteren Wurf vorbei. Gelingt er ihm nun mit Postdemokratie II,wie sein neues Werk Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus im Untertitel heißt? Rasch wird jedenfalls klar, dass hier einer so über den „Neoliberalismus“ schreibt, dass man es auch lesen will. Ohne Schaum vor dem Mund, klar und doch raffiniert. Und etwas später hat man als Laie dann sogar das Gefühl, die Finanzkrise ein Stück weit verstanden zu haben.

Bekanntlich setzt die neoliberale Ideologie voll und ganz auf den freien Markt, der das Profitstreben der einzelnen Akteure mit den Bedürfnissen der Allgemeinheit in Einklang bringt. So die Theorie. In der Praxis kommt es zu Verzerrungen, namentlich durch den Staat. Dem Neoliberalismus zufolge soll dieser Staat möglichst viele seiner angestammten Domänen auf- und jenem Markt anheimgeben, nach dessen Prinzipien seine Verwaltung nicht funktioniert – und darum eben auch wirklich nicht funktioniert. Dort, wo eine Privatisierung nicht vollständig möglich ist, vor allem bei der Bereitstellung „meritorischer Güter“ (Bildung, Gesundheitsvorsorge oder das Verkehrsnetz in bevölkerungsarmen Gebieten), soll er sich wenigstens an marktwirtschaftlichen Prinzipen orientieren und in Zeichen des New Public Management reformieren. Als Brite kennt Colin Crouch die konkreten Folgen einer solchen Politik gut, siehe etwa die Privatisierung der Bahn und ihre teilweise Rückverstaatlichung 2002.

Der Dualismus von Markt und Staat, auf den der Neoliberalismus fixiert ist, lässt ihn einen dritten Akteur vergessen oder auch verschweigen – den Großkonzern. Crouch, und das ist eine seiner Pointen, wird nicht müde zu betonen, dass sich Großkonzerne gerade nicht neoliberal, also marktkonform verhalten. Sie bedienen sich vielmehr des Staates, wenn es ihnen nützt, und treiben durch Lobbying die Verflechtung von Politik und Wirtschaft voran. Ja es scheint, als würden sich Politik und Großkonzern regelrecht gegen den Markt verschwören, Anschauungsmaterial bietet hier die USA.

Marktversagen

Man kann natürlich auch handfester über diesen Neoliberalismus sprechen. Crouch tut das auch: Was immer neoliberale Politik intendiert, unter dem Strich werden durch sie Wenige auf Kosten Vieler reich, oder anders gesagt, anstellte der sozialdemokratischen, keynesianischen Losung der „staatliche Intervention zugunsten der breiten Arbeitnehmerschicht“, wie sie die Nachkriegsjahrzehnte geprägt hatte, ist das liberal-konservative Pendant „Banken, Börsen und Finanzmarkt“ getreten.

Dass jener Finanzmarkt die Welt nun in eine tiefe Krise stürzt, war wohl auch vom Neoliberalismus nicht gewollt, kann aber keinen überraschen, der die entsprechenden Ausführungen bei Crouch gelesen hat. Auch hier ist er raffiniert genug, die Krise aus den Verstößen gegen die Prinzipien der Marktwirtschaft zu deuten, sie aus einem vielfachen Marktversagen heraus zu erklären (und nicht aus dem „Wesen des Kapitalsismus“ oder ähnlichem). Die Preisbildung wird verzerrt, die Informationen sind für die Akteure durch die enorme Geschwindigkeit des Handels nicht mehr transparent, und last but not least werden für Banken die „Marktaustrittsbarrieren erhöht“; eigentlich müsste es ja jedem Neoliberalen den Magen umdrehen, wenn er hört, dass Banken vom Staat gerettet werden müssen.

Für einen interessierten Laien (wie den Rezensenten) kommen die Ausführungen zur Finanzkrise einer Offenbarung gleich. Nach deren Lektüre kann er im Schlaf erklären, was ein vom Shareholder Value bestimmtes Unternehmen ist und warum es für den Aufstieg des Finanzkapitalismus entscheidend war, was die Pensionsfonds darin angerichtet haben, was das Zusammenspiel von Immobilien- und Finanzmarkt für Folgen hatte, wie der sekundäre Markt funktioniert und welchen Bezug er zum primären hat. Hier empfiehlt es sich, folgenden Vergleich einfach auswendig zu lernen: „Es war, als würde man auf Pferde wetten, die niemals ein Rennen liefen – man setzte lediglich auf seine Erwartungen hinsichtlich der Wetten der anderen Spieler.“

Ominöse Zivilgesellschaft

So scharf Crouch das Gesicht der Krise zeichnet, so wenig macht er uns Hoffnung auf einen Läuterungsprozess der Eliten. Das Überleben des Neoliberalismus ist eben gar nicht so befremdlich, wie der Buch­titel suggeriert. Zu stark sind die Lobbys, zu verführerisch die schnellen Lösungen: „Die Politik wird eine Rückkehr zum Kreditboom als besten Weg betrachten, die Nachfrage anzukurbeln, und zugleich mit der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes fortfahren. Deshalb wird sie geneigt sein, der Finanzkrise nachzugeben, wenn diese eine Lockerung der Vorschriften fordert.“ Von marxistisch inspirierten Hoffnungen auf eine Lösung der Krise hält Crouch aber auch nichts. Seit die Klasse der Industriearbeiter verschwindet, ist in der westlichen Welt kein revolutionäres Subjekt mehr identifizierbar.

Lösungsansätze sieht er nur in Gestalt einer „Corporate Social Responsability“ der Konzerne selbst, vor allem aber in der „Zivilgesellschaft“; die Szenarien sind aber so matt, dass der Rezensent das Buch vor Beendigung der Lektüre auf sein Nachttischchen gelegt hat. Dort, und nicht im Regal neben der Dialektik der Aufklärung steht es nun. Aber viel wäre schon gewonnen, wenn es sich nicht nur des Wollwollens jener sicher sein könnte, die es schon immer gewusst haben, sondern sich auch auf den Nachttischen jenes Bürgertums wiederfände, das nach Frank Schirrmacher in der Krise „die Fähigkeit zu bürgerlicher Gesellschaftskritik wiederfinden“ muss. Dann wird es ja vielleicht doch noch was mit dieser Zivilgesellschaft.

Das befremdliche Überleben des NeoliberalismusColin Crouch, Suhrkamp 2011, 248 S., 19,90

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Angele

Ressort Debatte

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hängte er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fussball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

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