Wenn man der Maslowschen Bedürfnispyramide folgen darf, geht es uns gut: Erst muss der Mensch seine Grund- und Existenzbedürfnisse befriedigen, dann Sicherheit, dann Soziales, ganz oben schließlich Anerkennung und Selbstverwirklichung. Es gibt die Pyramide in verschiedenen Varianten, Abraham Maslow selbst hat kurz vor seinem Tod die Spitze nochmals verlängert und über die Selbstverwirklichung die Transzendenz gesetzt. Ach, wären wir doch so weit!
Gerade ruft uns die Dichte an Esoterikern auf Anti-Corona-Demos jäh ins Bewusstsein, dass es ein weit verbreitetes Bedürfnis nach einer Erfahrung gibt, die uns übersteigt und uns doch ausmacht, aber bei der Befriedigung der Bedürfnisse ganz oben rangiert: das Ausladen von missliebigen Menschen von Veranstaltungen, zu denen man sie zuvor eingeladen hatte. So nimmt man es zumindest wahr, wenn man den Wallungswert einer Debatte zum Nennwert ihrer Bedeutung nimmt. Der jüngste Fall: Lisa Eckhart. Die österreichische Kabarettistin und Literatin sollte beim Harbour Front Festival aus ihrem Debütroman lesen, wurde dann aber ausgeladen, weil es Drohungen von Linksradikalen gegeben haben soll, die Eckhart für eine Antisemitin halten.
Vielleicht gab es diese Drohungen aber auch gar nicht, sondern nur Warnungen von Nachbarn vor solchen Drohungen, und überhaupt, jetzt wollten die Veranstalter Eckhart doch einladen, aber nun will sie nicht mehr. Auch entstand der Eindruck, die Kabarettistin ließe sich von der AfD vor den Karren spannen, was ihr Verlag per Pressemitteilung geraderückte.
Dazwischen wurden viele Artikel geschrieben, etliche Kommentatoren warnten, dass die „Cancel Culture“ um sich greife, mit verheerenden Folgen für das Toleranzklima. „Cancel Culture“, das meint, kurz gesagt: Ausladen statt Aushalten. Das ist natürlich doof. Was hält man bei einer wie der Eckhart eigentlich nicht aus? Wenn sie, bezogen auf den jüdischen Background prominenter Me-Too-Täter, sagt: „Denen geht’s wirklich nicht um Geld. Denen geht’s um die Weiber, und deshalb brauchen sie das Geld.“ Und es sei „nur gut und recht, wenn wir den Juden jetzt gestatten, ein paar Frauen auszugreifen. Mit Geld ist ja nichts gutzumachen“. Das ist böse, das ist antisemitisch – und ist es überhaupt nicht. Das ist einfach too much. Und so liest man, dass einem bei der Eckhart das Lachen „im Halse stecken bleibt“.
Interessant, denn es ist ein alter aufklärerischer Ansatz von Satire, ein sich moralisch einwandfrei dünkendes Publikum durch toxischen Humor mit sich ins Unreine zu bringen. Das Konzept baut auf Menschen, die sich selbst nicht ganz über den Weg trauen. Überraschenderweise bildete nun ausgerechnet die jüngste Covid-Demo in Stuttgart ein Beispiel für diesen Ansatz. Eingeladen wurde der Kabarettist Florian Schroeder, der mit einem brillanten Auftritt darlegte, warum die Demonstranten ihn, der an Hegel und Maskenpflicht glaubt, aushalten müssen, wenn es ihnen mit der viel beschworenen „Freiheit“ ernst ist. Und sie haben ihn ausgehalten.
Ich fände es gut, wenn sich dieser Ansatz anstelle der „Cancel Culture“ durchsetzte – im Sinne der Maslowschen Pyramide: damit wir endlich zu Stufe sechs kommen, zur Transzendenz. Richtig verstanden bedeutet diese ja, den Menschen als Gattungswesen in den Blick zu nehmen. Und da fiele dann vielleicht etwas stärker auf, dass sehr viele aus dieser Gattung noch nicht mal Stufe eins der Bedürfnisse befriedigen konnten.
Kommentare 8
nun ja,
- die "dichte" an spiritualität überdeckt die regungen des bauches schwerlich.
- und auch satire, die gegen ihr publikum giftet, ist nicht von dauer:
sie hat neben der blitz-gescheiten auf-klärung auch eine affirmative
seelen-massage für ihre klientel zu liefern,
sonst verbliebe die erhellen-wollende
in duster-bleibenden veranstaltungs-räumen.
Interessant. Es scheint mir die einzig mögliche Cancel-Culture, denn Handke hat ja quasi das Publikum ausgeladen.
auch handke hat nur einen (kleinen)teil des publikums verschreckt,
dafür die masse des publikums für sich gewonnen/gewendet.
so geht (bildungs-)eliten-wechsel.
über das ab-kanzeln alter eliten,eliten in reserve, löwen und füchse:
-->wikipedia: "elite".
Das Gruseligste an der "Cancel Culture", oder wie immer man diesen Trend nennen möchte, ist das "Vorauseilende". Im Großen, wie bei dieser öffentlichen Festival-Ausladung, wie im Kleinen, wenn man tunlichst die Nähe zu "zweifelhaften" Menschen, Handlungen, Meinungen meidet.
Eine selten dümmliche Überschrift.
"Weder aushalten noch ausladen" wäre eine passende aus meiner Tastatur gewesen.
KEINE Ausladung ist angemessen. Auch AfD-Leute haben ein Recht zum Sprechen und Auftreten. Künstler ohnehin. Selbst Wirrköpfe wie Xavier Naidoo.
Ich wiederhole mich gerne: Demokratie und Meinungsfreiheit schließen Auftritts- und Redeverbote aus. Gesinnungspolizei ist ein Bestandteil autoritärer Gesellschaften. Menschen, die die Nazi-Zeit überlebt haben, wissen dies ebenso wie frühere DDR-Bewohner.
Methoden dieser Art schaffen einen Nährboden für autoritäre Strukturen. Wer dies will, soll es auch sagen - und sich nicht hinter irgendwelchen vorgeschobenen Scheinheiligkeiten verstecken.
Ich habe als Teenie die 1960er in der alten BRD erlebt. Die damaligen Auswüchse "Geht doch rüber" oder "Ihr solltet vergast werden" waren analoge Petitessen im Vergleich zum heute oft gezeigtem Bashing und zu Hetze.
Widerstehen wir diesen Auswüchsen. Hier und Jetzt. Für uns ist das wichtiger als der Hinweis auf Unzulänglichkeiten an fremden Orten und Staaten. Wir leben HIER.
Timbuktu ist überall.
"Eine selten dümmliche Überschrift"? Echt jetzt? Wissen Sie, diese verbalen Kraftmeiereien aus der Anoynmität heraus gehen wir extrem auf den Senkel. Eben mal kurz reinhauen, kostet ja buchstäblich nichts. Das sind für mich genau so "Auswüchse".... In 99 von 100 Fällen schweige ich mittlerweile in solchen Fällen, aber ganz gelegentlich will ich es dann doch gesagt haben... Wieso schreiben Sie nicht einfach, dass die Überschrift ihrer Meinung nach das Problem nicht trifft? Irgend so etwas. Wäre gut für's Klima...
"gehen mir" natürlich...
Hab' ich schon Groupies (Jüngere: bitte recherchieren) hier?
Wow!
Frau Eckhart polarisiert zweifelsohne nicht nur mit ihrem koketten Outfit, sie hat auch eine äußerst spitze Zunge, die spaltet. Für die meisten Rechten, Konservativen, Liberalen und sogar manchen Bürgern in diesem unserem Lande, die sich selbst als "links" bezeichnen, dürfte vor allem ihre Zunge zu spitz sein.
Selbsternannte Demokraten, die monieren, dass einem bei Frau Eckhart das Lachen „im Halse stecken bleibt“, sollten besser oberflächliche Komödianten und Hofnarren wie Mario Barth bzw. Dieter Nuhr besuchen und sich kein Ticket für Lisa Eckhart kaufen.
(Politisches) Kabarett und politische Satire muss nicht immer amüsant, lustig und zum Lachen sein. Vor allem darf und muss Satire nicht politisch korrekt sein.
Ich liebe Satire und politisches Kabarett. Volker Pisper, Frank-Markus Barwasser alias Erwin Pelzig und Max Uthoff habe ich in den letzten Jahren schon live erlebt. Der großartige Georg Schramm tritt leider nicht mehr auf der Bühne auf.
Die besten Momente sind gerade diejenigen, bei denen das in der Regel gesellschaftskritische Publikum eben nicht lauthals auflacht, weil es selbst getroffen wird. Auch der Kabarettist Hagen Rether gehört m. E. zu denen, die das hervorragend beherrschen.
Auch nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" und bei Jan Böhmermanns Lobeshymne auf den türkischen Präsidenten Erdoğan gab es eine Debatte zum Thema "Was DARF Satire?"
Auf diese grundlegende Frage kommt immer reflexartig der große Kurt Tucholsky und "Alles". Allerdings greift die Frage bei Lichte betrachtet bereits zu kurz, wenn es um die Zielsetzung von Satire geht. Wenn es um die Zielsetzung geht, stellt sich die Frage: Was MUSS Satire?
Satire muss gesellschaftliche Missstände aufdecken, Scheinheiligkeit, Bigotterei, Heuchelei, Doppelmoral und Verlogenheit offenbaren. Satire muss aufklären und Licht ins Dunkel bringen. Satire muss sich gegen die Reichen und Mächtigen im Lande richten und für die Menschen einsetzen, die in der neoliberal-konservativen Welt die sogenannte Arschkarte gezogen haben.
Gemessen an dieser Zielsetzung darf sich Satire auch über Behinderte, kleinwüchsige Menschen, Flüchtlinge, Juden, Arbeitslose, Obdachlose, Schwule, Lesben usw. lustig machen. Aber sie muss auch denjenigen den Spiegel vor das Gesicht halten, die sich selbst für aufgeklärt, links, tolerant, weltoffen, gebildet und liberal halten.
Nur eines darf Satire nie: Satire darf sich nie auf Kosten der Opfer lustig machen und die Opfer verspotten und verhöhnen.
Problematisch wird es allenfalls dann, wenn die Intention von Satire nicht klar und deutlich zum Ausdruck kommt und daher missverständlich interpretiert werden kann.
Ein angeblich freiheitlich-demokratisches Land wie Deutschland, in dem sich Satire selbst zensiert, braucht keine staatlichen Zensoren, die nur das zur Veröffentlichung freigeben, was der Regierung bze. der herrschenden Nomenklatura in den Kram passt.
Vielleicht sollte man sich den strittigen Clip in Movie-Form anschauen; die Text-Exergese im Beitrag reißt – wenn auch in unterstützender Absicht – die strittige Passage doch stark aus dem Kontext.
Was ist das Ziel des Ganzen? Frau Eckhart macht sich – durchaus treffend, wie ich finde – über die im politisch-korrekten Milieu breit anzutreffende Gewohnheit lustig, Angehörigen deklarierter Minderheiten ausschließlich gute, hehre Charaktereigenschaften zuzuschreiben. Idealiter – das heißt: wenn es den Adressaten um echte Menschen aus Fleisch und Blut ginge und nicht um Fantasiekonstrukte, die edler sind als Winnetou und Old Shatterhand zusammen – müßte sie mit ihrer Kritik an der damit einhergehenden Anspruchsüberfrachtung eigentlich offene Türen einrennen. Die kurz vorm Entgleisen befindlichen Gesichter einiger Studiogäste zeigen allerdings, dass sie a) mit ihrer Kritik voll ins Schwarze getroffen hat, b) dass da möglicherweise noch was nachkommen konnte. Was nun der Fall ist.
Im aktuellen, mittlerweile allerneuesten CC-»Skandal« kommen gleich zwei Dinge zusammen: a) ein Milieu, dass sich nicht mit seinen Lebenslügen konfrontieren lassen möchte, b) Veranstalter, die keine Eier haben und sich hinter omminöse »Hinweise« aus der Nachbarschaft zurückziehen – nach dem Motto: »Der Blockwart war zwar noch nicht direkt da, wurde aber schon angekündigt«. Schlecht also. Stokowski, von der ich gemeinhin viel halte, schreibt in ihrer SPON-Kolumne zum Thema zwar viel Allgemeines, was meiner Meinung nach stimmt und in etwa auch die von ihr anskizzierte Gewichtung verdient. Was den konkreten Aufhänger ihrer Kolumne anbelangt, scheint sie sich jedoch vorschnell und ohne genauere Überprüfung einer Seite zugeschlagen zu haben.
Dass man den Clip eventuell zweimal sehen muß (oder fünf Minuten über den Inhalt nachdenken), um ihn zu verstehen, kann jedenfalls kein Argument sein, ihn in einer Geste politisch korrekter Zensur aus dem Verkehr zu ziehen. Und: Ja & völlig unabhängig von Verstehen oder eventuell auch Nicht-Verstehen – natürlich können und sollen Menschen ab etwa 12 sowas aushalten müssen.