Allein das liebevolle Porträt, das Schimmang von Peter Glotz zeichnet, lohnt das Lesen. Als einer von ungezählten Realien schwimmt der 2005 verstorbene „SPD-Vordenker“ im Erzählfluss dieses Romans, der etwas von der gebändigten und sicheren Art des Rheins hat. Kein Wunder, der Rhein ist sein genius loci. Spätherbst 1990, Rheinhotel Schulz: „Erzählen sie doch keinen Quatsch“, erwidert Glotz auf eine Stichelei Gregor Korffs, er wolle wohl die Mauer wieder hochziehen.
Nein, die Mauer will hier niemand wieder haben, aber was kommt, weckt beim Personal dieses Romans Befürchtungen. Korff ist zu dieser Zeit noch Berater eines namenlosen Kanzleramtchefs und späteren Innenministers, der die Züge von Rudolf Seiters (CDU) trägt. Eine Lehrtätigkeit an der Verwaltungshochschule Speyer, ein Geisteswissenschaftliches, von vager Linksradikalität begleitetes Studium in Berlin und eine Beat-Jugend in der westdeutschen Provinz liegen da schon hinter Korff.
Sein Freund Leo Münks hat einen ähnlichen Lebenslauf, auf die studentenbewegten Berliner Jahre folgt die Verbeamtung. Münks heuert beim Verfassungsschutz an. Unsympathisch ist er trotzdem so wenig wie die anderen Figuren, wie Anita zum Beispiel, die Leo nach der Heirat mit Freund Georg betrügt, der wiederum von seiner Sonja betrogen wird, die sich als „Stasitante beim Bundespresseamt“ entpuppt. Klingt nach Kolportage, aber bitte schön, im gleichen Jahr, in dem Sonja abtaucht, wird ein Ministerpräsident tot in einer Genfer Badewanne gefunden, von „mafiösen Verwicklungen“ ist die Rede.
Parallelaktion
In einer furiosen Rezension für die taz hat Stephan Wackwitz "Das Beste, was wir hatten" als bisher besten Roman zu „1989“ aus westdeutscher Sicht gepriesen. Ein „rheinisch-kapitalistischer Westbindungsroman“ in der Tradition des Realismus – von dem allerdings immer schon fraglich war, wie realistisch er ist. Fast mehr noch als in der Wirklichkeit wurzelt die Sonja-Episode in einer literarischen Parallelaktion, die sie mit der serbischen Hochstaplerin Pawla Dorotic assoziiert, die seinerzeit Carl Schmitt um den Finger gewickelt hatte.
Georg ist von Schmitt fasziniert. Er ist einer jener eher linken Leser des schmissigen Rechtsphilosophen, die es dank des Religionsphilosophen Jacob Taubes an der FU Berlin tatsächlich in respektabler Zahl geben hat, und es ist köstlich zu lesen, wie Schimmang die Verbiedermeierung eines radikalen intellektuellen Schicks bis zu dem Punkt verhandelt, wo der Minister seinem Mitarbeiter eine Erstausgabe der Politischen Romantik schenkt. „Die Unterscheidung von Freund und Feind. Einführung in Carl Schmitt“ lautet der Titel, der immer gleichen Lehrveranstaltung, die Georg in Speyer gehalten hat. Nimmt man diese Unterscheidung zum Signum „des Politischen“, wie Schmitt selbst es getan hat, dann sind die Figuren des Romans apolitisch. Die Freunde kennen keine Feinde, das gilt noch für Leo, den Verfassungsschützer, der zwar Spione verfolgt, aber Feinde? Gehören sie nicht eher zu jenem „intellektuellen Spiel“, das auch ihn packt, wenn er von Berufs wegen res publica, eine zeitschrift für freie geister liest?
Man liest sich, buchstäblich: Der Roman treibt seine Literarizität bis in die feinsten Verästelungen, etwa wenn er die mit einem neu erwachten hausfräulichen Sinn für Nachbarobservierung ausgestattete Anita gleichzeitig als passionierte Leserin von Michel Foucaults "Überwachen und Strafen" vorführt. Vor allem aber liegt ihm, darauf hat Wackwitz verwiesen, Gustav Flauberts Desillusonierungsroman L‘éducation sentimentale zu Grunde.
Die Desillusionen verlaufen glimpflich. Um von einer anderen Fallhöhle zu sein, müssten die Illusionen größer gewesen sein. Aber als wichtigstes Ereignis im Leben der Berliner Studenten bleibt das Fußballspielen in Schmargendorf – das biedere Schmargendorf, gleichsam Provinz in Westberlin, als Symbol der BRD, nicht schlecht, denkt man, oder vielleicht doch die Verwaltungshochschule Speyer?
Einer will sich seine Illusionen aber nicht nehmen lassen, natürlich ein Buchmensch: Carl Schelling, ein Freund aus jenen Tagen, zieht unerwartet in die Nachbarschaft von Georg und Anita. Der Provinzialismus, den Karl Heinz Bohrer einmal als das Schlimmste begriff, was die BRD hervorgebracht hatte, wird hier als ihr Bestes vorgeführt: es konnte uns keiner abhanden kommen.
Schelling arbeitet nicht nur für die res publica, es drängt ihn zur Tat. Das Niederwalddenkmal will er in die Luft sprengen, das allerdings selbst Gregors Mutter so schrecklich findet, dass dem Attentäter ein Orden verliehen gehöre, und es sollen dabei nicht nur Menschen, sondern nach Möglichkeit sogar die Tiere geschützt werden; ein wahrhaft humanes „Freund-Feind“-Denken. Das Attentat wird vereitelt, Schelling als Kopf der anarchistischen Gruppe August Reinsdorf festgenommen, von den alten Freunden befreit und nach Amsterdam gebracht wird, wo er als Koch glücklich endet.
Bewusstseinslage
Zu Recht hatte Wackwitz diesen Teil des Romans als den schwächsten bezeichnet, hier verlasse der Autor das sicher beherrschte Terrain des „realistischen Sittenbilds“ und werde utopisch, es triumphiere der Wunsch über die Beschreibung. Den Widerstand gegen den drohenden Nationalismus habe es in dieser Form nach 1989 eben gerade nicht gegeben.
Das stimmt, aber irgendwie scheinen das sogar die Figuren zu ahnen. „Seine Gedanken kehrten zur Gruppe August Reinsdorf zurück. Ohne Zweifel politische Romantik, aber doch mit hohem Symbolgehalt.“ Die Figuren deuten ihren Roman schon selbst, glücklich macht das nicht, verzweifelt aber auch nicht. Der Roman fasst „Bundesrepublik“ als wohlig unglückliche Bewusstseinslage – sie hat 1989 überdauert.
„Ich kann nur Ironie“, pflegt einer der Freunde zu sagen. Dieser melancholische Seufzer umflort eine Handlung, die immer auch Abschied ist: von der Jugend, von der Westberliner Boheme, schließlich ein langer Abschied von der Bundesrepublik, zu der man gleichzeitig im Begriff war Heimzukehren.
Wenn Georg in seinem Borgward in der „beginnenden Dämmerung“ durch eine „merkwürdig zersiedelte Flusslandschaft“ fährt, wird eine Bewegung gezeichnet, die mit Pizza vor dem Fernseher zum Stillstand kommt: Nie war mehr Westbindung, als „der Siebzehnjährige aus Leimen“ im Sommer 1985 überraschend das Tennisturnier von Wimbledon gewann. Es gibt Schlimmeres.
. Jochen Schimmang. Edition Nautilus, Hamburg 2009. 320 S., 19,90 Das Beste, was wir hatten
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