Broder, Grass und die SPD

Wahlkampf Es war ein spannender und erkenntnisreicher Abend im Willy-Brandt-Haus. Allerdings verlief er nicht ganz so, wie der "Welt"-Kolumnist es darstellt

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Es ist das gute Recht von Henryk M. Broder, Günter Grass nicht zu mögen. Er ist da nicht der einzige. Die oberlehrerhafte Attitüde von Grass geht vielen auf die Nerven. Auch mir. Aber es ist nicht sein gutes Recht, seiner Abneigung all das zu opfern, was ihm geraden nicht in den Kram passt. Worum geht es?

"Im freien Fall Harikiri zu begehen, ist ein Kunststück, das noch keinem Selbstmörder gelungen ist. Bis vorgestern. Da hatte die SPD in ihre Berliner Zentrale zu einer Veranstaltung mit Günter Grass eingeladen", steigt Broder in seinen Kommentar bei "WeltOnline" ein.

Nun wollen wir gerne mal ein wenig kleinlich sein, und anmerken, dass nicht "die SPD" eingeladen hatte, sondern genauer "der Freundeskreis Willy-Brandt-Haus, das Kulturforum der Sozialdemokratie und das Berliner Ensemble".

Der Beitrag des Berliner Ensembles ist nämlich in diesem Fall nicht gering zu schätzen, bei Broder taucht er leider nicht auf:

"Eigentlich sollte es um den als Buch erschienenen Briefwechsel zwischen Willy Brandt und dem deutschen Nationaldichter gehen, aber natürlich ging es um aktuelle Politik, weswegen neben Grass auch Peer Steinbrück Platz genommen hatte, der in drei Monaten zum Bundeskanzler gewählt werden möchte."

Falsch, natürlich ging es auch um den Briefwechsel, und also um ein bedeutendes Stück Zeitgeschichte. Die renommierten Schauspieler Burghart Klaußner und Dieter Mann haben fast eine Stunde aus ihm vorgelesen. Es war eine Show. Klaußner, der den Part von Grass übernahm, gelang es maliziös, das Aufgeblasene, Wichtigtuerische in den Briefen des jungen Schriftstellers an Brandt so fein aufs Korn zu nehmen, dass es den anwesenden Grass nicht denunzierte (nicht auszuschließen, dass er es gar nicht bemerkt hat).

Gleichsam contre coeur zeigten die vorgelesenen Stellen, wie cool Willy Brandt mit Grassens weitreichenden Ratschlägen umging. Im besten Fall deckten sie sich "mit eigenen Überlegungen", in der Regel ging er nicht oder lapidar darauf ein.

Aber solche Feinheiten sind Broders Sache nicht. Vielleicht entgehen sie ihm einfach. Also schreibt er:

"Grass hatte seine eigene Agenda. Er nutzte die Gelegenheit, um der Kanzlerin ihre FDJ-Vergangenheit vorzuwerfen, er nannte die Bundeswehr eine 'Söldnerarmee'. Dabei sei die Truppe auf dem Weg zu einem 'Staat im Staat', wie einst die Reichswehr in der Weimarer Republik. Es war, als habe Grass sich vorgenommen, die moribunde SPD mit einem Schlag von ihren Leiden zu erlösen."

Das ist richtig, es ging dann natürlich auch um aktuelle Politik. Broder unterschlägt nur einfach die andere Hälfte der Wahrheit. Wolfgang Thierse, den Broder ebenfalls nicht nennt, obwohl er immerhin das auf die Lesung folgende Gespräch zwischen Grass und Steinbrücker moderierte, Thierse also parierte den unsäglichen Hinweis von Grass auf die FDJ mit einem selbstironischen Hinweis auf die eigene Vergangenheit. Aber Selbstironie ist halt nicht jedermanns Sache.

Gravierender ist, dass Broder verschweigt, dass Steinbrück an dieser Stelle Grass heftig widersprochen hat. Dem Zerrbild der Söldnerarmee hielt Steinbrück das Ideal der Bundeswehr als Bürgerarmee entgegen. Man kann davon halten, was man will, die Einlassung eines "Vortragsreisenden" (Broder) war das nicht. Sondern Leidenschaft, Lust am Streitgespräch.

Es gehört freilich zur Tragik der SPD und dieses Wahlkampf, dass Steinbrück immer dann authentisch und leidenschaftlich wirkt, wenn es um eher konservative Haltungen geht. Man weiß es. Man konnte es auch an diesem Abend sehen. Und man hätte sehen können, wie Steinbrück mit Grass "fremdelte" (Tobias Rüther, 'FAZ'). Aber dazu wäre ein unvereingenommenerer Blick ganz nützlich gewesen. "Kein Geist, nirgends", schreibt Broder. Wie falsch. Er war nur nicht dort, wo er nur zu genau wusste, dass er nicht sein würde.

Den größten Applaus gab es im Saal übrigens weder für Steinbrücks recht mutigen Gedanken zu einer solidarischen deutschen Europapolitik, noch für Grass' Wutrede auf die Bundeswehr, sondern für die wohlfeile Medienschelte, die Grass, Steinbrück und Thierse unisono vortrugen. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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