Lange hatte man den Eindruck, die Soziologie habe nicht mehr viel zu sagen. In jüngster Zeit revidierten zwei Bücher diesen Eindruck gründlich. Zum einen Die Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz, zum anderen Die Gesellschaft des Zorns von Cornelia Koppetsch. Beide wurden in der Öffentlichkeit hoch gehandelt. Der Freitag entdeckte die Autorin früh und bat sie um einen Leitartikel, der erörtern sollte, warum Xenophobie im Osten so ausgeprägt ist. Man las Sätze wie „Flüchtlingspolitik ist eben auch Sozialpolitik“. Das genügte Bornierten dafür, sie als Pegidaversteherin abzustempeln, aber für viele Leser war das eine interessante Perspektive. „Stichworte ‚zur geistigen Situation der Zeit‘“ hatte Jürgen Habermas das genannt. Solche Stichworte lösen sich vom Urheber, werden Allgemeingut auch in der akademischen Sphäre.
Wer weiß schon, wer das Copyright für den Begriff „Spätmoderne“ hat? Oder nehmen wir den Begriff „Neogemeinschaften“, den Andreas Reckwitz in seinem Buch prominent verwendet. Auch Koppetsch arbeitet mit ihm. „Man stutzt, wenn sie den Begriff ‚Neogemeinschaften‘ einführt – so als hätte sie ihn erfunden. Dieser Begriff ist nicht ihrer, er stammt vom Bayerischen Buchpreisträger 2017, Andreas Reckwitz, so geprägt in seinem damals hier ausgezeichneten Buch Die Gesellschaft der Singularitäten“, sagte einer der Juroren des Bayerischen Buchpreises, Knut Cordsen. Das ist falsch. Weder hat Reckwitz den Begriff „erfunden“ – eine simple Google-Recherche hätte erbracht, dass er zum Beispiel bei unserem Autor Franz Schandl 2007 auftauchte –, noch verwendet Koppetsch ihn wie Reckwitz. Neogemeinschaften sind bei ihr (wie bei Reckwitz und anderen) auf digitale Kommunikationsformen gestützt, aber sie sind (anders als bei Reckwitz) eine „Reaktion auf globale Verunsicherungen“.
Pointe nicht erschwindelt
Das Buch wurde – unter unwürdigen Umständen – von der Shortlist des Bayerischen Buchpreises genommen. Denn darin finden sich nicht nur Stichwortübernahmen, sondern diverse Einzelplagiate, also fast identische Stellen aus Büchern, die wie ein Abschreiben wirken. Das wiegt nicht leicht, Koppetsch weist eine Absicht zurück, wohlwollend kann man es als Schlamperei unter Zeitdruck taxieren. Tragischerweise trifft es eine Autorin, die sich intensiv mit anderen Positionen beschäftigt.
Nachdem der Skandal da war, hat Cornelia Koppetsch eine Stellungnahme geschrieben, die ihre Auseinandersetzung mit der Gesellschaft der Singularitäten en détail dokumentiert. Ich zitiere Koppetsch, Stellungnahme, o. J., S. 2: „Auch ich gehe wie Reckwitz von kulturellen Spaltungen aus. Diese Spaltungen finden sich allerdings nicht nur innerhalb der Mittelklasse, sondern auch in der oberen und der unteren Klasse. Darüber hinaus sind die kulturellen Spaltungen in meiner Theorie nicht primär. Im Zentrum steht vielmehr die Verschränkung ökonomischer, kultureller und emotionaler Spaltungen, die in unterschiedlichen Klassenlagen politisch unterschiedlich mobilisiert werden können. Dem Erfolg des Rechtspopulismus liegt ein vertikales Bündnis von Fraktionen unterschiedlicher Klassenlagen zugrunde.“
Man kann eine solche Pointe nicht erschwindeln, nur erarbeiten. Darauf hinzuweisen, scheint umso wichtiger, als Bücher wie Die Gesellschaft des Zorns zwar viel „diskutiert“, aber selten gründlich gelesen werden. Der Verlag hat das Buch einstweilen aus dem Handel gezogen. Es wird hoffentlich, nun mit durchweg korrekter Zitierweise, bald wieder zu kaufen sein.
Kommentare 19
Dazu Manuel Castells 1996 in "The Power of Identity": "The age of globalization is also the age of nationalist resurgence,expressed both in the challenge to established nation-states and inthe widespread (re)construction of identity on the basis of nationality, always affirmed against the alien." (Castells 2010 (Orig 1996) p. 30).
Das Zitat spricht leider nur von einer zeitlichen Parallelität. Dabei stehen globalistische und nationalistische Konzepte in einem ursächlichen Zusammenhang zueinander. Und zwar nicht in dem Sinne, dass das eine eine Gegenreaktion auf das andere wäre. Nein, es sind zwei Seiten derselben Medaille. Das kann man zur Zeit am besten am Brexit studieren. Der Brexit verhindert transnationale soziale Bewegung und ermöglicht genau deshalb noch weniger eingeschränkte, quasi schrankenlose transnationale, also globale Kapitalbewegung.
Man könnte wohl solche Mängel in sehr vielen gehypten Publikationen finden. Vielleicht müssen wir uns darauf einstellen, dass unter diesen Vorwänden unbequeme Wahrheiten darstellende Publikationen immer öfter verhindert oder wenigstens behindert werden.
Cornelia Koppetschs Buch hat mir den Glauben an die Sozialwissenschaften (und ihre potenziell nützliche Rolle) zurückgegeben.
Die kleingeistige Verfolgungsjagd, die ihre sogenannten »Kollegen« derzeit gegen sie starten, hat mir ihn wieder genommen.
Das zutreffende Ein-Wort-Fazit zu dieser causa: an der Stelle nicht zitierfähig.
"Auch ich gehe wie Reckwitz von kulturellen Spaltungen aus. Diese Spaltungen finden sich allerdings nicht nur innerhalb der Mittelklasse, sondern auch in der oberen und der unteren Klasse. Darüber hinaus sind die kulturellen Spaltungen in meiner Theorie nicht primär. Im Zentrum steht vielmehr die Verschränkung ökonomischer, kultureller und emotionaler Spaltungen, die in unterschiedlichen Klassenlagen politisch unterschiedlich mobilisiert werden können. Dem Erfolg des Rechtspopulismus liegt ein vertikales Bündnis von Fraktionen unterschiedlicher Klassenlagen zugrunde."
Klasse.
Das isses.
DIE Lösung.
Das MUSS doch nun endlich DIE Lösung sein ....:)))
Gell.
Ist ja auch nur der erste Satz des Kapitels über den Nationalstaat und den Nationalismus. Die Erklärung kommt später.
Am besten einfach mal selber lesen. Die Information Age Trilogie ist immer noch das Standardwerk der internationalen soziologischen Internetforschung.
Am besten einfach mal selber lesen. Die Information Age Trilogie ist immer noch das Standardwerk der internationalen soziologischen Internetforschung.
Ob Cornelia Koppetsch plagiiert hat oder nicht ist mir ohnehin egal, da ich ihre These, daß das kosmopolitische Milieu, welches sich in Folge der Globalisierung herausgebildet hat, schuld am Rechtspopulismus ist, für falsch oder mindestens stark verkürzt halte. Denn Kloppetsch blendet den EURO aus, den Deutschland zu seiner Antwort auf die Globalisierung umfunktioniert hat.
Um konkret zu werden: Deutschland hält sich seit Jahren nicht an die Regularien des Euro um sich einen Vorteil gegenüber den anderen Ländern zu verschaffen, wettbewerbsfähiger zu sein! Diese Schraube der innere Abwertung, die auch durch Zuwanderung weiter gedreht wird, zwingt andere Länder sich zu verschulden und in Folge dann zu sparen, also in Austerität! Diese erzwungene Austerität ist der
Grund für den Rechtspopulismus. Eine Soziologin sollte sich auch in der Geschichte auskennen, sie sollte z.B. Brüning und sien Austeritätsregime der 30er Jahre kennen, daß die Nazis sn die Macht gebracht hat.
Koppetsch Thesen lenken meiner Meinung nach nur von den wahren Gründen für das erstarken des Rechtspopulismus ab. Es ist die Austerität.
It´s the economy, stupid.
Cornelia Koppetschs Buch sollte auf jeden Fall erneut, möglichst verbessert und aktualisiert, auf den Markt kommen. Da haben Sie völlig Recht, Herr Angele.
"Vertikale Bündnisse" sind es, die die Erfolge der AfD begründen, die also "Volkspartei" genau in in diesem Sinne ist. Soziologisch völlig unterschiedliche Milieus verbinden sich mit ihr.
Angehörige der Eliten, einige Kulturschaffende, eher noch verborgen zustimmende und unterstützende Geldleute, Beamte, Akademiker des Mittelbaus, Militärs und Polizisten, auffallend viele Juristen, dazu Lehrer und Pensionäre, aber auch Rentner mit den besseren und sicheren Renten und viele Selbstständige (Handwerker, Einzelhändler, Gastwirte, Bauern, Sicherheitsdienstleister), sowie mittlerweile auch gut ausgebildete und sicher beschäftigte Industriearbeiter, fühlen sich bei dieser Partei wohl.
Sie haben, mit der Wahl der AfD ein informelles "Bündnis" geschlossen, diese Republik maßgeblich zu ändern, die EU durch ein altes Konzept der konkurrienden Nationalstaaten zu ersetzen und eine völkisch orientierte Leistungsgesellschaft zu erschaffen. Es treibt sie keine existenzielle Not und keine konkrete Furcht.
Auffällig ist übrigens, dass die AfD weder programmatisch noch in den Aussagen ihrer Spitzenleute im BT oder in den Medien, eine speziell an tatsächlich Arme und Bedürftige gerichtete Politik anbietet. Diese auch weiterhin sprachlose und weithin unsichtbare, sehr große soziale Gruppe, interessiert die nationale Partei nicht sonderlich, viele Parteien aus der alten Mitte jedoch auch nicht. Diese Schicht ist als einzige nicht im vertikalen Bündnis der rechten Bürger eingeschlossen, zumal sie, neben den Migranten, eher als "Ballast" der nationalen Gesellschaft gesehen werden.
Das immer noch, mit mindestens 2/3 erwählte bürgerliche Lager, es umfasst übrigens auch die Linke, was viele Genossen nicht glauben oder zugeben wollen und die Gegner aller Genossen, mit der idiotischen Feststellung des "Hufeisens" oder der "Querfront" ablehnen, ist hingegen eher horizontal determiniert und repräsentiert die eigentliche Mitte der Gesellschaft, die sich von der Extremistenpartei AfD derzeit noch nicht knacken lässt.
Mir fehlen aber zwei wichtige sozialpsychologische Sachverhalte, bei Koppetsch und bei Reckwitz, die jeneseits des "Zorns" und der "Singularitäten", jenseits der "Neogemeinschaften" (wie immer man die verstanden wissen will) wichtig sind, weil sie die Basis für das sehr aktivistische und zunehmend offen bekennende Verhalten der AfD- Funktionäre auf allen Ebenen und vieler ihrer Wähler liefern: das gute Gefühl, die Bekenntnislust und die Sicherheit des Willens.
Darauf spielt auch ein erheblicher Teil der AfD- Propaganda an: Man könne sich "gerade machen", endlich sagen und aussprechen, was man wirklich denke und fühle, verkörpere den wahr und wahrhaftig sprechenden Volksmund, die Volksmeinung, die eigentliche und großgeschriebene "Deutsche Kultur".
Anders als beide Autoren, glaube ich an eine viel stärker positiv besetzte Motivation der Bürger, nun AfD zu wählen oder in anderen Ländern rechtsnationale, autoritäre und illiberale, gar faschistische Parteien, Bewegungen oder Einzelpersonen zu stärken.
Nicht die Furcht vor der im Alltag meist fernen, globalisierten Konkurrenz, nicht tatsächliche Unsicherheit, prägen die Wahl- und auch die Engagements- Entscheidungen des AfD- Feldes, von den Funktionären, bis hin zu teilweise recht jungen Helfern und Wählern, besonders Männern, sondern Gefühle von Stärke, Wirkmacht, Durchsetzungsfähigkeit, trotz kleiner Zahl und deutlicher Minderheit.
So prägt man, seit Jahren (mindestens seit 2015), sowohl die mediale politisch- öffentliche Debatte, als auch das soziale Klima in manchen Gegenden, bis hinein in die Sportkultur und das Freizeitverhalten und verfügt mittlerweile über bundesweite Netzwerke zwar politisch, gesellschaftlich, kulturell und sozial inkorrekter, aber eben sehr gerne konsumierter, alternativer Web- Medien.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Jedenfalls reiht sich Kloppetsch ind die deutsche Klaukultur ein.
Die Klaukultur ist ja die eigentliche Leitkultur der Deutschen.
Wir haben die "deutsche Tugend" des Klauens aber in dieser Dekade noch erweitert durch das Sparen. Klauen und Sparen ist die Leitkultur der deutschen Eliten.
"Koppetsch Thesen lenken meiner Meinung nach nur von den wahren Gründen für das erstarken des Rechtspopulismus ab. Es ist die Austerität."
Dann muss in Deutschland die Austerität im Spätherbst 2015 besonders schlimm gewütet haben. Aber klar: "it's the economy, stupid".
Vorgefasste Ansichten sind ja universell einsetzbar, so jagt jeder beständig seinen Lieblingsdämon, sei es die böse Globalisierung, wie bei Frau Koppetsch, sei es die Austerität, wie bei Ihnen, oder sei es, - wie bei den meisten Freitag-Foristen - die böse Soziale Marktwirtschaft, die an allem schuld ist und uns von der absoluten Glückseligkeit trennt.
Diese Betonköpfigkeit raubt mir den Glauben an den verstand meiner Mitmenschen, und das ist mehr als ärgerlich. Ihre Ansicht dagegen, sorgt bei mir für schmunzelnde Erheiterung ... angenehm.
Auch habe das Buch von Cornelia Koppetsch mit großem intellektuellem Gewinn gelesen. Und gerade deshalb hoffe ich auch, dass das Buch baldmöglichst wieder in korrigierter Form auf dem Markt erscheint. Es ist einfach zu wichtig, um es immer nur mit dem 'Plagiats-Vorwurf' zu deskreditieren. Die zentralen Thesen stehen ja nicht unter 'Plagiatsverdacht'. Schreiben und intervenieren Sie weiter Frau Koppetsch! Und Dank dem 'Freitag', daß er sich nicht in den Mainstream der Polemik gegen das Buch einordnet.
Sieht momentan an nicht nach einer Bagatelle aus: klick
... vielleicht auch "aber nicht nach einer Bagatelle ...."
oh, je, eine fassade von geistigem eigentum zerbröselt.
mir unangenehm, weil ihre kompilation von gedanken
mir anregend erschien....
an der frage des g. e. entscheidet sich ja NICHT die "anregung", sondern "bloß" der akademische karrierismus/die ak. karriere.
außerhalb der akademik, wo ihre bücher ja auch eine nicht gerade geringe rolle spielen -feuilleton, ggfls. politikberatung u. ä.-, ist das sekundär. richtig schlecht ist - u. wird einem wohl dabei - die "wiss. methodik", - und darin unterscheidet sie sich dann kaum von den populäreren sachen der curranten soziologie, z. b. eines nassehis u. v. a., was sich wie gesagt seit längerem schon mit den unterirdischen erfahrungen aus der emp. soziologie in schland deckt, deren erbarmungswürdigernzustand man als informatiker da mit anschauen muss.
leusch/columbus hat eben ein näschen für die anhaftung ans falsche, wenn es nur hochgestochen-akademisch-esoterisch genug daherkommt, siehe Avital Ronell ...