Prächtige Zeiten für Eigenwillige: Willy Brandt im Januar 1969 auf dem Sofa, Kishon lesen ("Pardon wir haben gewonnen")
Foto: Ullstein, Sven Simon
Man muss sich schon fragen, ob es stimmt, was sich so leicht sagt: dass unserer Zeit die „Typen“ fehlen. Wer den Wechsel von Gottschalk zu Lanz bei Wetten dass..? nicht gleich für ein neues Kapitel in der Verfallsgeschichte von Eigensinn und Charakter hält, der soll doch einfach mal die aktuellen Bundesligatrainer durchgehen, um zu sehen, dass hier einige Typen mit Kanten und Ecken beschäftigt sind, der Freiburger Trainer Christian Streich ist sogar ein Original. Anhand seines Kollegen von Dortmund sieht man aber auch das Problem: Wenn der Eindruck nicht täuscht, sinkt Jürgen Klopp gerade im Ansehen der Menschen, seine aufgekratzte Art nervt sogar den, der sie für authentisch hält. Die Massenmedien heizen die Nachfrage nach Nonkonformisten zwa
ormisten zwar stetig an, ihr Reiz erschöpft sich aber auch rasch.Dem Problem des Nonkonformismus der Gegenwart hat die Zeitschrift Merkur unlängst ein Sonderheft gewidmet. Was bedeutet es, von der Norm abzuweichen, wenn die Abweichung von der Norm selbst zur Norm wird? Was passiert, wenn viele Menschen nonkonformistisch sein wollen? Es scheint, dass sich dann ein eigener, beklemmender Konformismus herauskristallisiert, der „Konformismus der Nonkonformisten“. Man kann das bei den Piraten studieren. Es gibt ja kaum einen Piraten, der nicht von einer Norm abweichen will. Die Inkarnation dieses Typus ist Johannes Ponader, sein ganzes Wesen besteht darin zu sagen: „Ich bin anders“. Ich kommuniziere anders, ich sichere mir meine Existenz anders, ich definiere mich in meinem Mann-Sein anders... Und nun, wo die Piraten zur Partei werden und der Normalitätsdruck etwas gestiegen ist, sagt er: „Ein Teil von mir bleibt immer Freak. Ich verspreche zum Beispiel: Wenn wir zum ersten Mal ein zweistelliges Wahlergebnis erreichen, dann lackiere ich mir die Zehennägel orange!“Schumacher und SchmidDie große Ausnahme bei den Piraten ist Christopher Lauer. Für ihn, so darf man unterstellen, ist die Vorstellung von orange gefärbten Zehennägeln kindisch. Lauer wirkt wie ein manchmal etwas altkluger junger Abgeordneter, der gerne auslotet, wie weit er sich von seiner Partei zum Zwecke des Prestigegewinns entfernen kann, ohne die Kosten für unsolidarisches Verhalten tragen zu müssen. Wolfgang Kubicki von der FDP ist ihm da einen Schritt voraus: Der Kieler Rechtsanwalt besteht fast nur noch in der Kritik an seiner eigenen Partei. „Wolfgang Kubicki hat seine Partei davor gewarnt ...“; „Wolfgang Kubicki hält nichts von Niebels Vorstoß ...“. Zweifellos muss man zur eigenen Partei auf Distanz gehen, um „Ecken und Kanten“ zu zeigen, aber reicht das? Ist Renitenz an sich ein Zeichen für Eigensinn und Charakter? Wenn nicht, was gehört noch dazu?Es ist nun an der Zeit, ein wenig sentimental zu werden und von der Sozialdemokratie zu sprechen. Es gab in der Nachkriegszeit zwei herausragende Protagonisten, die ebenfalls Juristen waren. Der eine ist Kurt Schumacher, der die SPD nach 1945 mit neu aufgebaut hatte. Schumacher sprach viel von Freiheit und noch mehr von Disziplin, und obwohl er als charismatischer Redner galt, war er gewiss kein Querdenker, aber er war von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gezeichnet. Im Ersten Weltkrieg hatte er einen Arm verloren, 1933 kam er für mehrere Jahre ins KZ, seine Freiheit mit einer Verzichterklärung auf politische Tätigkeit zu erkaufen hatte er abgelehnt, als Spätfolge musste ihm 1948 das linke Bein amputiert werden. Was jeder sehen konnte: Kurt Schumacher hatte für seine Überzeugungen gelitten.Nun wäre es albern, bei den späteren Generationen einen Mangel an Charisma und Charakterstärke mit fehlender Kriegs- und Faschismuserfahrung zu erklären (und immerhin folgte ja noch die Auseinandersetzung mit den Vätern). Aber es kommt ein weiteres Element dazu, das in jener Zeit von Schumachers Protegé verkörpert wurde, von Carlo Schmid. Gelegentlich fällt der Name noch in kulturpessimistischen Plaudereien, oft gefolgt von dem Namen Peter Glotz, als dem endgültig letzten seiner Art. Glotz und Schmid stehen für eine Zeit, in der Macht und Intellekt noch zusammenfanden.Ich hatte von dem frankophilen Juristen, Schriftsteller, Übersetzer Carlo Schmid zuerst bei Ernst Jünger gelesen, ausgerechnet. Jünger verkehrte mit Schmid so freundschaftlich, wie ihm das möglich war: „Vormittags sprach Carlo Schmid, aus Belgien kommend, bei mir vor. Wir unterhielten uns über seine Übersetzung der Fleurs du Mal, lautet ein Eintrag im Pariser Tagebuch von 1942. Die Verbindung zum Übersetzer der Gedichte von Charles Baudelaire hielt über den Krieg hinaus. Unerwarteter Respekt vom Gegner ist nun einmal aufregender als erwartbarer Beifall aus dem eigenen Lager. So überraschend war es allerdings nicht, dass Jünger mit Schmid konnte, denn der war von seiner geistigen Herkunft mehr ein Jünger Stefan Georges als Marxist. Und auch nach dem Krieg blieb er ein konservativ geprägter Mann aus bildlungsbürgerlichem Haus. Als er dann wie aus dem Nichts der Sozialdemokratie beitrat, näherte er sich gleichsam aus maximaler Distanz, und noch Adenauer hielt es für einen schmerzlichen Irrtum, dass er nicht bei der CDU angeheuert hatte. Dann aber festigten sich bei Schmid langsam die Überzeugungen. In dem Aufsatz Darum bin ich in der SPD, der 1956 im Vorwärts erschien, argumentierte Schmid, dass es ohne Sozialismus keine echte Freiheit geben könne. Von seinem Habitus war der „Professor“ in der Lage, die Partei der Arbeiterschaft auch für das aufgeklärte Bürgertum zu öffnen. Selbstironisch sprach Schmid von der „Planstelle für Geist, Theorie und Lehrer“, die er bei der SPD besetze.Nun muss man sagen, dass Carlo Schmid vor allem ein Versprechen war und ist. Seine Parteikarriere blieb unvollendet. Wohl war er Mitglied im Parteivorstand, wohl war er maßgeblich am Godesberger Parteiprogramm beteiligt, aber als Kandidat zum Bundespräsidenten unterlag er Heinrich Lübke. Erfolgreich war er als einer der Väter des Grundgesetzes sowie als Vizepräsident des Bundestags, wo er mit Esprit für ein gedeihliches Gelingen der Parlamentsarbeit sorgte. Die Göttinger Politologin Stine Harm, die verschiedentlich über Carlo Schmid geschrieben hat, sieht dessen relatives Scheitern nicht zuletzt in seiner „empfindlichen Künstlernatur“, Schmid war eben nicht nur Jurist, sondern auch ein „zartbesaiteter Melancholiker“.Kanzlerkandidat wurde dann Anfang der sechziger Jahre auch nicht er, sondern Willy Brandt, der, nicht minder melancholisch, seinerseits ein Versprechen war und ist (siehe Abbildung). Aber dass einer sich der Partei nähert und eine Heimat in ihr sucht, ohne im Habitus mit ihr zu verschmelzen: darin ähnelt Schmid dem aktuellen Kanzlerkandiaten. Klar, auch Steinbrück spielt das Spiel des heutigen Nonkonformismus, das da geht: Teste, wie viel Distanz zur Partei gerade noch geht. Aber seine Rede war doch mehr, da hat einer sein Darum bin ich in der SPD formuliert. Die Selbstironie beherrscht er ja wie Schmid. Und die Melancholie wird garantiert noch kommen.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.